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Joe N. C. Slim aus dem 24. Stockwerlc

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Joe Nelson Cesar Slim grinste. „Elftes Stockwerk“, sagte die weißhaarige Dame vom Beerdigungsinstitut. Immer grinsen sie, dachte die Dame, ich möchte auch einmal so ein Negergemüt haben, so leicht wie ein Vögeidren, immer lustig. Wenn dieser Bursche wüßte, welche Sorgen wir Weißen haben. Er braucht •tur auf den Knopf drücken: 24. Stockwerk. Sie kennen keine Verantwortung, diese schwarzen Burschen, sie arbeiten nur, um zu leben, um zu essen, um zu trinken, das ist alles. Er fährt auf und ab und grinst. Er grinst immer, das ist aufregend. Vielleicht schreibe ich einen Artikel für die „Familien-Sonntagspost“: „Joe grinst immer.“ Das ist ganz gut. Besser wäre: „Das aufregende Grinsen.“ Nein, das ist ein schlechter Titel, zu wenig Seelisches, etwas mit Psydiologie wäre gut, das zieht, vielleidit: „Die Psydiologie der schwarzen . . .“, nein, nodi besser: „Die Dämonie der schwarzen Heiterkeit.“ Ausgezeichnet, Dämonie ist wunderbar. Den Artikel werde ich gleich schreiben, Mr. Hopkins kommt heute nicht vor zehn. Dafür kriege ich bestimmt 30 Dollar. Dann kriegt der Wellensittich einen gläsernen Käfig mit Klimaanlage.

Die Dame stieg aus. Sie dachte nicht mehr an Joe N. C. Slim, sie dachte nur mehr an die „Dämonie der schwarzen Heiterkeit“.

Joe N. C. Slim grinste. Er ließ den Lift bis zum 24. Stockwerk hinaufjagen. Dort stieg er aus und tat, was er nicht durfte: er arretierte den Lift, indem er die Türe offen ließ. Er lief durch einen hellen Flur bis zu seinem Quartier. Joe schlief hinter den leeren Kartons der Firma J. & L. Bur-leigh. Er wollte ein Stück Brot holen, denn ihn hungerte sehr. Er suchte unter den Jutesäcken, die seine Liegestatt waren, und fand nichts. Grinsend lief er wieder zurück und hüpfte in die große Liftkabine. Pfeifend ließ er den Lift hinabfallen bis zum Erdgeschoß. Er hatte Zeit, sich im Spiegel zu besehen. Er nickte sich ermunternd zu. Es wird schon alles gut ausgehen, Joe N. C. Slim, sagte er, es geht immer alles gut aus. Er erkannte die Verzweiflung, die in seinen Augenwinkeln hockte, denn er war mit seinem Spiegelbild auf Du und Du und wußte sidi auf jede Veränderung seinen Vers zu machen. Hör mal. Joe, mach keine Dummheiten, es wird alles gut, es wird sehr gut.

Joe grinste und ließt die Türen aufspringen. Die Leute strömten herein. Unter ihnen war auch Mr. Saunders, jener Mr. Saunders aus dem 7. Stockwerk, der Joe immer freundlich zunickte.

Mr. Saunders war der einzige gute Mann, den Joe kannte. Joe hatte zu ihm jedes Vertrauen. Als Joes Vater gestorben war, war Mr. Saunders der einzige Mensch in New York gewesen, der ihm Kredit ohne Deckung gegeben hatte. Hör mal, Joe, ich will dir helfen, hatte Mr. Saunders gesagt, Ich habe Vertrauen zu dir, du wirst mir nicht durchgehen? Nein,

M'schu, Joe wird nicht durchgehen, hatte Joe geantwortet. Du führst den Lift bei uns, hatte Mr. Saunders gesprochen, wenn du mich betrügst, verlierst du den Posten und kommst auf den elektrischen Stuhl. Oh, Joe kommt auf den elektrischen Stuhl, hatte Joe geschrien, nein, Joe nicht kommt auf den elektrischen Stuhl, Joe zahlt alles. Mr. Saunders hatte ihm dann die Sache mit den Zinsquoten und den Rückzahlungsquoten erklärt, und Joe war glücklich, daß er so gut davonkam. Er bekam seine 17 Dollar, die er für die Beerdigung noch brauchte, und konnte gehen. Er woljte Mr. Saunders die Hand küssen, aber Mr. Saunders ließ es nicht zu. Joe mußte monatlich 3 Dollar Zinsen zahlen. Drei Dollar waren ein bißchen viel, gut,, aber dafür hatte er das Darlehen ohne Deckung erhalten. Und außerdem, hatte er monatlich 3 Dollar Rückzahlungsquote zu zahlen. Joe grinste. Er hatte keine Ahnung, wie er das Geld aufbringen sollte, aber es würde schon gehen. Es ging immer alles gut.

Das war vor drei Jahren gewesen. Joe hatte jeden Monat seine 3 Dollar abgeliefert, für die 3 weiteren Dollar zur Rückzahlung langte es nicht. Er fürchtete sich immer vor Mr. Saunders, wenn er die Zinsen abliefern ging und wieder keine Rückzahlung mitbrachte. Aber Mr. Saunders war ein guter Mann. Er schimpfte nie.

Joe lieferte die Leute ab. Im 3. Stockwerk, im 4., im 5. Stockwerk. Mr. Saunders stieg in seinem 7. Stockwerk aus. Er nickte Joe freundlich zu.

Joe hatte noch einen Fahrgast, die hübsche rothaarige Telephonistin von

Snyder Brothers Ltd., 21. Stockwerk. Dann war er wieder allein in seiner Kabine.

Dieser Wolkenkratzer ist wie ein Dschungel, dachte Joe. Es ist schwül und warm und über den Baumwipfeln faucht der Sturm. Viele kleine Bäche fließen in den Mauern, und viele Quellen sprudeln, fast in jedem Raum eine. Die vielen Stockwerke und Zimmer sind wie die Lehmhütten in einem Dorf, aufeinandergebaut. Kochstellen sind da, Weiber und Kinder laufen herum.

Joe ließ den Lift hinabpfeifen. Es war schrecklich, daß die Mammy jetzt krank war, man hatte ihr auch das zweite Bein abgenommen. Joe zahlt alles, habe ich gesagt, Joe hat einen Lift. Mammy hat Schmerzen, aber sie spricht nicht davon. Jetzt habe ich alles verkauft, die beiden guten Schlipse um 30 Cents, die hohen Stiefel um 2 Dollar, den schönen braunen Anzug um 5 Dollar und 50 Cents. Jetzt habe ich nichts mehr und muß hinter den Kartons schlafen. Aber es wird nooh alles gut. Es wird sehr gut.

Joe grinste und ließ die Leute einsteigen. Die meisten aßen etwas, Obst oder Brötchen oder Sdiokolade. Wenn jetzt einer sagt: Joe, magst du ein Schinkenbrötchen? das wäre herrlich. Ich könnte ja darum bitten, aber so etwas tut Joe nicht. Dort sitzt Mr. Bolding. Wenn ich ihm die Knoblauchwurst wegnehme, dann habe ich was.

Warum sieht mich der Nigger so sonderbar an, dachte Mr. Bolding. Man weiß nie, was in diesen Leuten vorgeht, man weiß nicht, ob hinter ihrer Maske Freundlichkeit steckt oder ob sie einem die Gurgel mit einer Rasierklinge durchschneiden wollen. Wie seltsam er die Augen rollt. Wenn Joe ein Weißer wäre, würde ich sagen, er ist wahnsinnig, ein normaler Mensch schaut nicht so in die Gegend. Aber bei diesen Schwarzen weiß man nie, was los ist. Ich möchte schwören, er betrachtet jetzt meinen Hals. Vielleidit stört ihn mein Adamsapfel, und er hat Lust, mir die Kehle einzudrücken. Nie wieder bleibe ich allein mit diesem Riesenkerl in der Kabine. Ob ich ihn anspreche? Vielleicht bringe ich ihn dadurch von irgendeinem verrückten Gedanken ab. Oder ich bringe mich gerade damit in Gefahr? Vielleicht sieht er mich gar nicht, vielleicht sieht er durch mich in den Ur? wald, ich bin ein Fenster für ihn, und er sieht zu, wie eine Antilope am offenen Feuer gebraten wird. Er sieht so leer aus, wahnsinnig hungrig. Ich würde ihm ja gerne ein Stückchen Knoblauchwurst geben, aber was geschieht, wenn er in Trance ist und in die Hand beißt, die ihm den Bissen hinhält?

Der Lift pfiff und stöhnte, Joe riß die Türe auf. Mr. Bolding verließ sehr schnell die Kabine.

Nein, sagte Joe, man darf einem Menschen nicht die Wurst wegnehmen, das geht nicht. Es schwirrte ihm im Kopf, kalter Schweiß brach ihm aus den Poren. Jetzt habe ich schon viele Tage fast nichts gegessen, dachte er, das ist schlecht. Dieser Wolkenkratzer ist ein böser Dschungel, die Bäume sind alle leer und tragen keine Früchte. Keine Schnecke, kein Käfer, nichts ist da, was Joe verzehren konnte. Ein böser, ein verzauberter Dschungel. Es kocht und brodelt in den Gängen, viele Stimmen, Türenzuschlagen, Radios, Schuheklappern. Da ist keine gute Mammy, die einen streichelt, wenn man traurig ist, da sind nur leere Wände, leere Bäume ohne Früchte, kahle Böden, kahle unfruchtbare Erde, totes Gestein. Alles ist böse, und armer Joe ist allein, ganz allein.

Joe sang das traurige Mzongo-Lied, das Lied vom Dorf, das von Mzongo verbrannt wurde, weil es Mzongo keinen Wasserbüffel opfern wollte. Jeden Abend kam Mzongo aus dem Sumpf gekrochen und wartete am Opferplatz und nie brannte ein Opferfeuer, und nie lag ein Opfertier da. Mzongo wurde zornig und machte aus dem ganzen Dorf ein Opferfeuer. Und alle starben, und nichts blieb übrig als ein paar Knochen, um die sich die Füchse zankten.

Der Lift pfiff und seufzte, die Stockwerke sprangen vorbei, 21. und 20. und 19. Stockwerk, Die Gänge lagen da, wie mattbeleuchtete Tunnels unter der Erde, wie Geschützrohre, wie Kanonenrohre, und alle zielten sie auf Joe. Aber niemals konnten sie treffen, soviel sie auch zielten und lauerten, so schnell schoß die Kabine in die Tiefe. 9. und 8. und 7. Stockwerk. Heute abend mußte Joe N. C. Slim fünf Dollar ins Hospital bringen, für Mammy. Joe hatte keinen Cent mehr. Vorschuß hatte er schon genommen, es war nichts mehr zu madien. Aber es würde noch alles gut werden.

Joe grinste. Er ließ die Leute ein und lieferte sie ab, wie sie es wünschten. Als letzte ließ er Mrs. Walbot aussteigen, 24. Stockwerk, Firma J. & L. Burleigh.

Joe war wieder allein. Mzongo kam mit Feuer, sang er, und alle waren tot. Er betrachtete sich wieder im Spiegel. Die Verzweiflung hockte in seinen Augenwinkeln, immer noch. Sie lauerte wie ein Tiger, der sich zum Sprung vorbereitet. Sie wurde immer größer, sie erfüllte Joes Augen ganz, aus jeder Augenhöhle zwängte sich jetzt ein Tigerschädel und blinzelte mit den Augendeckeln. Ich werde zu Mr. Saunders gehen, und er wird mir zehn Dollar geben, wenn er die Tigerköpfe sieht, Mr. Saunders kann Joe nicht so herumlaufen lassen.

Joe erschrak plötzlich. Ihm fiel ein, daß auch in diesem Hause kein Opferleuer brannte. Mzongo kam vielleicht jeden Abend in diesen summenden Dschungel, in dem viele Feuer brannten und viele Kochstellen glühten, aber nicht für Mzongo. Musik erschallte, Trommeln dröhnten, aber nicht für Mzongo. Joe war aschgrau. Er fürchtete sich sehr. Niemand in diesem großen Wolkenkratzerdschungel dachte an Mzongo, niemand fürchtete ihn, niemand tat etwas für ihn. Kein Wunder, daß es keine Früchte gab, daß die Böden, die Wände taub und tot blieben, böse und kalt, Mzongo würde kommen, vielleicht heute nacht, und würde das in die Luft hinausgebaute Dorf mit Feuer verschlingen. Kein Wunder, daß Mammy sterben mußte, daß Joe N. C. Slim hungerte. Nichts würde gut werden, alles war böse, niemand tat etwas für Mzongo.

Joe im Spiegel grinste nicht mehr. Die

Tigerköpfe waren verschwunden, Schlangen züngelten jetzt aus Joes Augenhöhlen, schwarze Nattern der Angst. Joes Kinnbacken bebten. Er stöhnte. Er begann sich auszuziehen, indes der Lift fauchend in die Tiefe hinabfuhr. Er würde zu Mr. Saunders hingehen und ihn bitten, ein Feuer anzuzünden. Und dann würde Joe in das Feuer hineingehen und alles würde gut werden. Die Mammy würde leben, und alles war dann sehr gut. Der Wolkenkratzer summte, brodelte und kochte.

Im 11. Stockwerk hatte die weißhaarige Dame vom Beerdigungsinstitut soeben ihren Artikel fertiggestellt: „Die Dämonie der schwarzen Heiterkeit“, einen blendenden Artikel für die dritte Seite. Sie lächelte und zündete sich eine Zigarette an.

Die hübsche rothaarige Telephonistin von Snyder Brothers Ltd. hatte wenig zu tun. Der Lunch näherte sich, und da flauten die Gespräche etwas ab. Sie polierte sich die Fingernägel und aß eine Schokoladenstange.

Mr. Bolding saß in seinem Büro und rauchte. Er hatte die Vormittagspost erledigt und dachte an das kommende Weekend. Er malte, ohne es selbst zu wissen, allerhand Schnörkel auf seine Schreibunterlage Er wunderte sich sehr und schüttelte den Kopf, als er entdeckte, daß er ein Ornament aus Negerköpfen gemalt hatte. Lauter magere Neger mit großen, schwarzen, weitaufgerissenen Augen.

Die Schlangen waren wie wild, als Joe die Kabine im 7. Stockwerk verließ. Sie zischten und züngelten, daß es Joe im Kopfe weh tat. Er wunderte sich nicht darüber, daß die Leute kreischend davonliefen, als sie ihn sahen.

Als er Mr. Saunders' Büro erreicht hatte, zögerte Joe ein wenig. Ob Mr. Saunders seine Bitte erfüllen würde? O ja, er war ein guter Mann und würde einsehen, daß ein Opferfeuer gebrannt werden mußte, weil sonst niemand im ganzen Hause daran dachte.

Joe trat bescheiden ein. „Guten Morgen, Mr. Saunders“, grüßte er. Der Wucherer erbleichte, als er den nackten Joe sah. Vor Schreck vergaß er, auf die Alarmtaste zu drücken, die dafür vorgesehen war, in Fällen von Gefahr die Hauspolizei herbeizurufen. Joe näherte sich seinem Schreibtisch. Mr. Saunders blieb wie angewurzelt sitzen und regte sich nicht. Seine Angst sollte von kurzer Dauer sein. Der Kassier, der am zweiten Schreibtisch in diesem Räume saß, hatte seine kleine Pistole gezogen und zielte auf den riesigen Neger, der eben mit einem seltsam demütigen Ausdruck den Mund öffnete, um etwas zu sagen. Mr. Saunders sah die Pistole und begann wieder Hoffnung zu schöpfen. Der Kassier, der seinen Herrn vor dem Wahnsinnigen schützen wollte, drückte ab. Joe Nelson Cesar Slim grinste und fiel zu Boden, wie vom Blitz gefällt.

Mammy wird leben, es wird jetzt alles . sehr gut, war sein letzter Gedanke. Er wußte nicht, daß er sein Opfer bereits gebracht hatte, ein prachtvolles Opfer für die anderen in diesem Hause, die nicht an Mzongo dachten.

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