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Räuber des himmlischen Feuers

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Unter allen französischen romantischen Schriftstellern ist Balzac mit Stendhal und Baudelaire einer von denen, die zur Musik eine enge, dauerhafte Beziehung hatten. Von Kindheit an, teilt uns seine Schwester mit, „kratzte er stundenlang auf einer kleinen roten Geige, und man las von seinem strahlenden Gesicht ab, daß er in sich schöne Melodien hörte“. Später, in seiner ersten Wohnung in Paris, Rue Lesdiguieres, wollte er ein Klavier auf den Dachboden bringen lassen. „Übst Du immer an Deinem Klavier — ich will sparen, damit ich auch eines kaufen kann“, schreibt er in jener Zeit seiner Schwester. Schließlich war in seiner späteren Schriftsteller-Tätigkeit die Musik zugleich die einzige Erholung (und — ein Reizmittel wie der Kaffee) das ihm erlaubte, seine literarische „Zwangsarbeit“ fortzusetzen. „Seitdem ich Ihnen geschrieben habe, gab es nur Arbeit in meinem Leben. Doch nicht geringe Unmäßigkeit im Musikhören hat sie unterbrochen.“

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Unter allen französischen romantischen Schriftstellern ist Balzac mit Stendhal und Baudelaire einer von denen, die zur Musik eine enge, dauerhafte Beziehung hatten. Von Kindheit an, teilt uns seine Schwester mit, „kratzte er stundenlang auf einer kleinen roten Geige, und man las von seinem strahlenden Gesicht ab, daß er in sich schöne Melodien hörte“. Später, in seiner ersten Wohnung in Paris, Rue Lesdiguieres, wollte er ein Klavier auf den Dachboden bringen lassen. „Übst Du immer an Deinem Klavier — ich will sparen, damit ich auch eines kaufen kann“, schreibt er in jener Zeit seiner Schwester. Schließlich war in seiner späteren Schriftsteller-Tätigkeit die Musik zugleich die einzige Erholung (und — ein Reizmittel wie der Kaffee) das ihm erlaubte, seine literarische „Zwangsarbeit“ fortzusetzen. „Seitdem ich Ihnen geschrieben habe, gab es nur Arbeit in meinem Leben. Doch nicht geringe Unmäßigkeit im Musikhören hat sie unterbrochen.“

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Trotzdem entspricht diesem musikalischen Bedürfnis eigentlich keine musikalische Bildung, zum Beispiel als Instrumentalist, ja nicht einmal eine besondere Erfahrung im Konzerthören. Als er mit seinen zwei musikalischen Novellen „Gam-bara“ und „Massimilla Doni“ beschäftigt war, schreibt er M. Schlesinger, der für die „Revue Musicale“ verantwortlich zeichnete: „Vor sechs Monaten war ich von großen Zweifeln — was die Technik der Musik betrifft — geplagt.“ Dieses Fachwissen sollten ihm seine Freunde Ber-lioz, Auber, Rossini und Strunz vermitteln. Bemerkenswert ist, daß Balzac selbst immer bestätigt hat, er sei kein Fachmann für Musik, sondern „schwärme stetig für diese göttlichen Freuden“. Welche sind die Quellen dieses Vergnügens? Die Italiener des 18. Jahrhunderts Cimarosa, Pergolesi, Bellini, die Deutschen — „wenn sie singen wollen“ — Bach, Händel und Meyerbeer. Aber drei Namen in einem Brief an Hanska nebeneinander geschrieben, geben uns Rechenschaft ab über den sogenannten „kitschigen Geschmack“ Balzacs: „Ich hege eine tiefe Bewunderung für die großen Genies, die ihre Werke für die Bühne hinterlassen haben. Beethoven ist der einzige Mensch, der mich Eifersucht empfinden läßt. Ich hätte eher Beethoven werden wollen, als Rossini oder Mozart. Es gibt in diesem Menschen eine göttliche Kraft.“ So gibt es nur einen Namen, der über der ganzen Musik emporragt: Beethoven. Daraus läßt sich schließen, daß Balzac vor allem von der theatralischen Wirkung angezogen wurde, in einer Zeit, wo bekanntlich der allgemeine Kunstsinn im „Italienischen“ verkörpert ist: das heißt Großoper, Gesang und Kunstfertigkeit. So stellt sich die Frage: Beethoven über alles — warum? Was liebte Balzac an ihm? Kannte er ihn so gut?

Die Anspielungen auf Beethoven sind zahlreich in Balzacs Werk (La Peau de Chagrin, Splendeurs et Mi-seres des Courtisanes, Cousin Pons, U. Mirouet, M. Mignon). Gambara und M. Doni deuten oft auf diesen Musiker hin, aber selten auf ihn allein. Sehr häufig befindet er sich in Gesellschaft von Bach, Gluck, Mozart, Rossini, Meyerbeer, wobei keines der Werke Beethovens von Balzac besprochen wird. Gambara und Birotteau (am Ende des zweiten Kapitels, dann ganz am Ende des Buches) führen speziell die fünfte Symphonie in c-Moll an. Würden wir den gesamten Briefwechsel durchlesen, so kämen wir zu demselben Ergebnis: Nur ein Brief an Frau Hanska, den wir bald zitieren werden, spricht eigens von dieser Symphonie. Diese Fünfte hat Balzac zum erstenmal am 20. April 1834 in der „Societe des Concerts du Con-servatoire“ gehört und nochmals am 6. November 1837 unter der Leitung ihres Vorstandes Habeneck. Aber dann schreibt er Frau Hanska: „Verstehen Sie, ich kenne nur noch die c-MoH-Symphonie und das kleine Stück aus der Pastorale, das wir zusammen in Genf gehört haben.“ Hatte er so geringe Kenntnis von Beethovens Werk? Es ist wohl unwahrscheinlich!

Wir finden nämlich im Jänner 1850 in einem Brief von Balzacs Mutter an ihren Sohn Honore folgendes: „Sophie spielt das Septett von Beethoven mit einer ihrer Freundinnen“, was wohl bedeuten sollte, daß Honore außerdem noch das Septett kannte, aber wahrscheinlich auch andere Werke, die man, wie üblich zu jener Zeit, für ein oder zwei Instrumente umgearbeitet, zu Hause aufführte. Ob diese Werke dramatisch genug waren, um Balzac direkt zu beeinflussen, ist eine andere Frage.

Ferner gibt es in Balzacs Bekanntenkreis sicher Leute, die ihn über Beethoven unterrichten konnten. Der Musiker Berlioz war auch ein talentierter Schriftsteller. Er wurde nicht nur der Kollege Balzacs bei der Zeitschrift für Musik, sondern auch sein Freund und sein Tischgenosse bei Rossinis späterer Frau, Olympe Pelissier. Nun berichtete Berlioz regelmäßig über die Beethovenkonzerte des Conservatoire im „Journal des debats“. Der Vorstand dieser Gesellschaft, Habeneck, der als Deutscher Beethoven in Frankreich einführte, war mit Balzac so gut befreundet, daß er vor dem Konzert im November 1837 folgende Zeile erhielt: „Haben Sie an den Sperrsitz gedacht, den Sie mir für das Conservatoire bestellen wollten?“ Welche Gespräche werden die beiden nach dem Konzert geführt haben? Ein anderer Mann hat wohl auch mit Balzac über Beethoven geplaudert. Es ist der Lette Wilhelm von Lenz, der 1853 ein in Fachkreisen wohlbekanntes Buch über die

„drei Stile von Beethoven“ herausgegeben hat. Er traf sich mit Balzac 1842 in Paris und wurde von ihm am 27. Oktober mit V. Hugo und H. Gozlan in den „Rocher de Can-cale“ zu Tisch eingeladen. So wurde sein Wunsch erfüllt, die „großen französischen Geister“ kennenzulernen. Haben sie aber niemals zusammen von Beethoven gesprochen? Hat schließlich Franz Liszt, der schon lange mit Balzac befreundet war, nicht seine Karriere unter Beethovens Namen gestellt? Beim ersten Zusammentreffen von Balzac und

Liszt im Salon Olympe Pelissier, spielte der Ungar Stücke von Bach, Beethoven und Weber. Später spielte er in einigen Konzerten bei Erard die Sonaten Beethovens, und als Kammermusiker die Terzette. Während des Sommers 1837 arbeitete Liszt bei Georges Sand in Nohant an der Bearbeitung der Beethoven-Symphonien für Klavier. Und Balzac ging oft nach Nohant... Liszt schrieb Ahm zum Beispiel: „Ich brauche solche Zuhörer wie Sie, und in Ermangelung solcher Zuhörer — Mehrzahl, brauche ich Sie — Einzahl.“ Um zu einem Abschluß zu kommen, muß man sagen, Balzac kannte sich in Beethoven-Werken besser aus, als man annehmen könnte. Spricht er nur von der 5. Symphonie, so ist es auf Grund einer besonderen Beziehung zu diesem Werk, die eine geistige Entwicklung bei ihm auslöst, wodurch in ihm eine allgemeine Anschauung über Musik und Kunst reifte.

Rossini war nämlich für Balzac in erster Linie der Gott der Musik: „Der Komponist, der die menschliche Leidenschaft am besten vertont hat.“ Wie aber steht es mit Beethoven? 1834 wohnt Balzac zum erstenmal der Aufführung der Fünften bei. 1836 schreibt er an Frau Hanska: „Ich habe weder in ein Bad, noch zu den Italienern gehen können, zwei Sachen, die mir nötiger als Brot sind.“ Über Beethoven schreibt er jedoch nichts. 1837, nachdem er die Fünfte zum zweitenmal gehört hat, ist er außer sich: „Ich hätte lieber Beethoven als Rossini oder Mozart sein wollen ...“ Im selben Jahr erscheint Birotteau, und er beginnt an Gambara und M. Doni zu arbeiten. So sehen wir, daß Beethovens Musik nur nach und nach von Balzac empfunden wird, dann aber immer stärker, bis er zu ihrer inneren Wahrheit gelangt. Jede Art von Musik soll für Balzac im Grunde hochdramatisch und virtuos sein. So wird es verständlich, daß er dem allgemeinen Geschmack Rechnung trägt und die Sonaten und die Kammermusik etwas verachtet: sie sind unzugänglicher als Symphonien. Und zu Beethoven kommt er eben durch die Kunstfertigkeit der Mitglieder des Conservatoire („Beethoven wurde im Conservatoire so aufgeführt, wie es nirgends sein wird“).

Wir nehmen an, daß Balzac Zeit brauchte, um mit der Wahrnehmung eines „Lärms“, eines symphonischen Getöses fertig zu werden, um darin ein Temperament, eine innere Dramatik zu entdecken. Daher „kennt“ er nur die Fünfte und die Pastorale, weil er eben diese Werke gehört, wahrgenommen und empfunden hat. Um Berlioz' Worte zu gebrauchen, ist es „musique ä Programme“. Sind die Satztitel der Pastorale nicht schon alleine eine Beschreibung? Nun aber schreibt Balzac zweimal in Birotteau und an Frau Hanska über die Fünfte:

„Im Finale könnte man meinen, ein Zauberer nähme Sie in eine wunderbare Welt mit... Auf seinen Befehl schließen sich Tore, wie die der Taufkapelle, auf und lassen Schönheiten von unbekannter Art erblicken ... Sie werden von einer höheren Luft durchweht, von jener Luft, die, wie Swedenborg meint, singt und duftet... Nein, der Geist des Schriftstellers schafft keine solchen Genüsse, weil das, was wir malen, etwas Endliches, Bestimmtes ist, aber das, was Beethoven uns zuwirft, etwas Unendliches.“ Ruf des Unendlichen, Suche nach dem Unbedingten, das ist es, was Balzac bei Beethoven sucht und findet. Was zuerst einfache Beschreibung war, gilt jetzt nur als Sinnbild.

Sinnbildlich ist er in einem prome-theischen Sinn — in Birotteau zum Beispiel; zwischen Beethoven und Balzac gibt es ein Einverständnis, aber auch die Rivalität der Titanen. Sie sind beide Räuber dieses himmlischen Feuers, von dem Swedenborg spricht, in dessen Namen Beethoven durch Farben und Struktur der Töne unsere Welt wachruft („Freude schöner Götterfunken“), indem Balzac eine andere, literarische Welt schafft, die unter dem Zeichen des unendlichen Willens gebaut wird. Birotteau tritt als Märtyrer der Welt, der Gesellschaft auf, als Verteidiger des Willens, als Sinnbild der geschäftlichen Redlichkeit, wie Leonore, Sinnbild der Liebe und der Treue ist. Bei Balzac, wie bei Beethoven stammen Schöpfer und Geschöpfe von derselben Übermenschlichkeit ab, alle machen aus ihrem Leben einen Kampf für ein Prinzip. So eine metaphysische Absicht in der Darstellung der Leidenschaft war bei Rossini nicht vorhanden. Balzac hat sie bei Beethoven gelernt. Und Kraft gilt jetzt nicht nur als reine Virtuosität in den künstlerischen Mitteln, sondern auch als Zeichen des außerordentlichen Gemüts, als Geschenk des Schicksals.

Noch mehr als Birotteau ist Gambara ein Werk, das den Einfluß Beethovens verrät. Der Mensch Gambara begibt sich auf die Suche nach dem Absoluten. Er wird von seinem Schicksal gedrängt. Zwar fällt dieses Werk durch „das Erscheinen der Musik, die auf dieselbe Prüfung gestellt wird, wie der Gedanke in L. Lambert“ auf, aber durch

Gambara versucht Balzac der Musik das ihr Eigentliche zu rauben. Diese „Idee fixe“ des absoluten Meisterwerks, die wir in jedem Roman von Balzac wiederfinden, deutet bei ihm auf eine typische romantische Versuchung des Unendlichen hin. In diesem Sehnen nach Geist sah Hegel den Ursprung jeder Musik. Und Beethoven nahm es als Erster wissentlich als Prinzip und Ziel seiner Tonkunst. Außerdem zeugen die von Gambara ausgedachten Opern von Beethovens Einfluß: „Die Märtyrer und Mahomet bieten vom höchsten Aussichtspunkt eine Darstellung des Lebens der Nation an.“ Dann folgen allerlei heldenmütige Taten. Aber dieses Motiv des Heldentums ist auch Beethoven (zum Beispiel in allen heroischen Werken) eingefallen. Was die thematische Struktur der Oper betrifft, sagt Gambara: „Es ist eine Oper, die auf dem Baß aufgebaut ist. Beethoven hat seine c-Moll-Symphonie nicht anders gebaut.“ Schließlich könnten die letzten Worte von Gambara auch über Beethoven gesagt werden: „Mein Unglück kommt daher, daß ich zuviel die Konzerte der Engel hörte, und ich meinte, die Menschen könnten sie verstehen.“ Für Beethoven wie für Balzac ist das Leben ein vergebliches Streben nach Übermenschlichkeit als Zeichen des verwirklichten Geistes, und Musik und Kunst das einzige Gebiet, wo das Unendliche der menschlichen Leidenschaften mit dem Unendlichen des Geheimnisses der Welt in Verbindung treten kann.

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