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Bei der Betrachtung eines Bildes

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in einer Ausstellung ,Die Kunst der Nazarener' auf die Zeichnung eines Nazareners zutretend, suche ich nach den wenigen mir bekannten Bildern, die (wie zum Beispiel die Abbildung im Katechismus meiner Schulzeit) Jesus in der Werkstatt seines zweiten Vaters zeigen - meist steht der Knabe untätig da, schaut Joseph beim Hobeln zu und ist durch seine Untätigkeit ein Fremder in dieser Arbeitswelt, vielleicht sogar einer, der längst weiß, daß er, der im Tempel die Schriftgelehrten zu seinem künftigen Glauben bekehren will, die Tischlerei dieses Vaters nie übernehmen wird

und dann macht mir die genauere Betrachtung dieser einen Zeichnung plötzlich klar, daß Joseph nachträglich, das heißt: nach Jesu Kreuzestod und in Rücksicht auf diesen, zu einem Tischler gemacht worden ist, mag ich dies auch geahnt haben, sooft ich mich bei der Betrachtung des Katechismusbildes beunruhigt fragte, ob da wirklich nichts anderes dargestellt sei als ein Alltagstag Jesu, hingebracht in der Nähe des Vaters, welcher halt, weil er ein Zimmermann ist, in einem Zimmer etwas aus Holz zimmert, irgendetwas, oder ob dem beim Hobeln zuschauenden Jesus auf Wunsch des Zeichners bang sein soll vor den Brettern und Nägeln und er sich deshalb, indem er täglich den Vater in der Werkstatt aufsucht, wie im Traum an die mit ihm heranwachsenden Todesahnungen und seine allzu frühe Todesangst gewöhnen will:

der Nazarener läßt Joseph hobeln und sägen, der Jesusknabe aber trägt ein Brett durch die Werkstatt, das in der Weise lang und schmal ist, daß der Weg nach Golgatha idyllisch vorweggenommen wird, durch seine Dicke aber auch schwer genug ist, daß Jesus, dadurch erst recht noch ein Kind, es in der uns von Kreuzwegbildern vertrauten, etwas gebückten Haltung geschultert hält

der Apfelbaumundder Kreuzesbaum, ja. auch das halbnackte Jesukind auf

Stein und Stroh, die Arme ausgebreitet wie gut dreißig Jahre später bei der Na-gelung ans Kreuz, eventuell auch die segnend oder brüderlich umarmend ausgebreiteten Arme des erwachsenen Jesus als Hinweis auf die bald noch weiter geöffneten und durchhängenden Arme

mit solchen Anspielungen aber, sagt mir das Bild meines Nazareners, konnte und wollte sich die Volksetymologie nicht begnügen, es hat schon in den Knabenjahren Jesu schicksalhafte Vorzeichen geben müssen: da im Leben eines Gottes das Zufälligste kein Zufall ist, am besten solche scheinbar zufällige oder noch bessere: alltägliche Handlungen bzw. Tätigkeiten, die er selbst ahnungslos-ahnungsvoll zu Einübungen seines Todes, zu wortlosen Prophezeiungen seiner Hinrichtung macht -

er könnte zum Beispiel ein Brett oder einen dicken Ast zu einem Bach schleppen, um verirrten Schafen oder seinen Spielkameraden einen Steg zu errichten, aber besser ist, wenn er tagtäglich Bäume zu Balken machen hilft, was sonst als ein Tischler hat dann sein Vater zu sein! (wäre er gehenkt worden, hätten ihm die Weisen aus dem Morgenland zum Geburtstag auch noch eine Springschnur geschenkt, wäre er gefesselt ertränkt worden, hätte er allmorgens seiner Mutter Wasser aus ei laquo; ner Zisterne geschöpft, wäre er gesteinigt oder von einem Turm gestoßen worden, hätte er, auf einer Tempelmauer stehend, mit Hilfe einer Seilwinde Ziegelsteine hinaufgeholt)

Volksetymologie, in der Phantasie und Konstruktion rückwärtsgerichtet zusammengehen - vielleicht hat der Zeichner dieser Werkstattszene, nicht zufällig ist er ein Zeitgenosse der Romantiker gewesen, Clemens Brentanos Schönes Annerl gekannt, das als Kind das Schwert des Scharfrichters zittern läßt und dem als jungem Mädchen der Kopf eines Geköpften in den Schoß springt, weil es Jahre später ebenfalls durch das Schwert eines Scharfrichters sterben wird. Jesusknabe, der, ein Holzbrett schulternd, den Rationalismus der Erwachsenen sanktioniert und auch bloßstellt, und Holzbrett, das das Kind vielleicht auch deshalb zu tragen hat, um die Schuld an seinem Tod von Gottvater zu nehmen: wie man sieht, hat Jesus nicht erst zum ölbergkelch des himmlischen Vaters (und von diesem vielleicht überrumpelt) .Dein Wille geschehe!' gesagt, denn schon unter der Anleitung des weltlichen Vaters arbeitet er an seinem Kreuz

(ginge es für den Nazarener zu weit, das durch ihn von Joseph auf die kindliche Schulter gelegte Kreuzesholz als Sanctus über diejenigen zu deuten, welche viele Jahrhunderte später als Stellvertreter des himmlischen Vaters und Nachfolger Jesu seine reinsten Freunde zum Tode verurteilen und zur Hinrichtung den Landesvätern Ubergeben werden?)

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