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Chinesisches Weihnachtsgeschenk

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Einmal habe ich eine Zeit in China gelebt. Es war im Frühling, als ich in Shanghai angekommen bin, und die Hitze war mörderisch. Die Kanäle stanken zum Himmel. Ich hatte Heimweh nach Europa. Es gab niemanden, mit dem ich befreundet war. Ich kam mir ganz verloren vor in diesem fremden Gesichtermeer.

Am Heiligen Abend - ich war , wieder einmal verheult in meinen Zimmer - überreichte mir Ta-tse-fu, der Koch, ein Geschenk. Es war eine chinesische Kupfermünze mit einem Loch in der Mitte, und durch das Loch waren viele bunte Wollfäden gezogen und dann zu einem Zopf zusammengeflochten.

„Eine sehr alte Münze", sagte der Koch feierlich, „und die Wollfäden gehören auch dir ... von uns allen sind die Wollfäden". Ich bedankte

mich sehr herzlich. Es war ein merkwürdiges Geschenk.

Als ich die Münze mit dem bunten Wollzopf einem Bekanten zeigte, erklärte er mir, was es damit für eine Bewandtnis hatte: Jeder Wollfaden war eine Stunde des Glücks. Der Koch war zu seinen Freunden gegangen und hatte sie gefragt: „Willst du von dem Glück, das dir für dein Leben vorausbestimmt ist, eine Stunde abtreten?" Und sie hatten jeder für mich, der fremden Europäerin, einen Wollfaden gegeben, als Zeichen, daß sie mir von ihrem eigenen Glück eine Stunde schenkten.

Es war ein großes Opfer, das sie brachten, denn es lag nicht in ihrer Macht zu bestimmen, welche Stunde aus ihrem Leben es sein würde, die sie mir abtreten: Eine Glücksstunde, in der ihnen ein reicher

Verwandter Hab und Gut übergeben würde, eine der vielen Stunden, in denen sie glücklich beim Reiswein sitzen oder die Stunde, in der das junge Mädchen vermählt woren wäre. Blindlings machten sie mir, der Fremden, einen Teil ihres Lebens zum Geschenk.

Ich habe nie wieder ein Weihnachtsgeschenkbekommen, das sich mit diesem hätte vergleichen lassen. Von diesem Tag an habe ich mich in China zu Hause gefühlt. Und die Münze mit den bunten Wollfäden hat mich jahrelang begleitet, bis ich jemanden kennenlernte, der noch schlechter dran war als ich damals in Shanghai.

Da habe ich einen Wollfaden dazugeknöpft - und die Münze weitergeschenkt.

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