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Der Wohlstand ist die Grenze
Man braucht sich nichts vorzu- machen. Auch bei Österreichs öst- lichem Nachbarn hat das Verständ- nis für Flüchtlinge einem zwiespäl- tigen Verhältnis zum Fremden Platz gemacht. Vorbei sind die Zeiten, als sich die paar tausend waschechten Rumänen in Budapest als Opposi- tion zum Ceausescu-Regime ver- stehen konnten, Siebenbürgener Ungarn als „leidende Schwestern und Brüder" unter der Hand Arbeit und Wohnraum fanden.
Ein Jahr nach der Grenzöffnung für Zehntausende DDR-Bürger denkt man als Magyare doch erst einmal wieder an sich - und viel später erst an andere. Unter der neuen Antall-Regierung wird Na- tionalbewußtsein großgeschrieben.
Budapest fühlt sich von Wien in Stich gelassen. Weit finanzschwä- cher als der westliche Nachbar, über den allein man ja nur das Tor zum Westen aufreißen kann, kommt man mit dem Flüchtlingsstrom vor der eigenen Haustür nicht mehr klar: 800.000 Rumänen verließen seit dem Sturz des roten Tyrannen ihre Hei- mat auf Nimmerwiedersehen, bei- nahe die Hälfte über Ungarn.
Sicherlich gingen an die 100.000 Schwaben und Sachsen weiter gen Nürnberg und Friedland, schifften sich über westeuropäische Häfen Juden und große Teile der rumäni- schen Intelligenz nach Übersee ein, blieben aber auch ebensoviele in der Puszta oder im Gewirr der unga- rischen Großstädte hängen.
Um die eigene Bevölkerung nicht zu sehr vor den Kopf zu stoßen, werden genaue Zahlen in Budapest nicht bekanntgegeben, aber zwie- lichtige, abgemagerte, orientie- rungslose Gestalten mit fremden Zungen sind in dieser Metropole überall augenscheinlich. Wie Pilze sprießen selbst arabische Läden und Kneipen aus dem Boden, aus der Not unzähliger Palästinenser, Kur- den, irakischer Armenier entstan- den, die es nach Europa drängt und deren Endstation Budapest heißt.
Man jammert hier auch schon über die Mafia, über die „Schmug- geltouristen", über die „Schwarz- arbeiter" . Man hat schnell von Wien gelernt in den Ausdrücken, im Umgang und im Lösen von Proble- men (siehe FURCHE 37/1990, Seite 3). Die ersten Araber und Türken mußten dieser Tage Richtung Rumänien umkehren, die Roma so- wieso. Und dennoch - es ist ein Pre- stige für die junge ungarische De- mokratie, sich zu öffnen, und daher kommt es mehr als ungelegen, daß dieser „Vorposten demokratischer Experimente" mit Problemen al- leingelassen wird, die das kleine Land allein nicht bewältigen kann.
Jeder politische Beobachter weiß, die Völkerwanderungen aus Süd- osteuropa beginnen erst - und zwar einer Mischung von Elend, Unfrei- heit und Völkerhaß wegen. „Wir müssen erkennen", schrieb kürz- lich die Budapester Zeitung „Ma- gyar Nemzet", „daß nicht alle Gren- zen in Europa fallen, eine hält sich hartnäckig, die des Wohlstands."
Rekruten am Neusiedlersee auf der Jagd nach „Grenzgängern", ein Ex-Dissident wie Lajos Für, der als neuer Verteidigungsminister Un- garns dieser Tage den Vorschlag machte, das bereits erhöhte Mili- tärbudget von 40 Milliarden Forint auf 77 Milliarden im nächsten Jahr zu erhöhen: Sind das die Vorboten eines neuen Europas?
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