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Einsames Grübeln

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Seit Tagen schon riß ein eisiger Wind an der Gesichtshaut der Passanten, die Alleebäume zitterten, man hätte „keinen Hund vor die Tür gejagt“. An einem solchen Tag sah ich eine magere Frau mir entgegenkommen, in einem verschlissenen Mäntel. Man ist nicht sehr aufmerksam bei diesem beißenden Wetter, verhüllt sich, eilt dahin, um bald in die Wärme zu kommen, dennoch fiel mir auf, wie arg mitgenommen diese Frau, wie grau ihr Gesicht und wie schmerzvoll ihr Ausdruck war. Sie trug kein Tuch um ihren faltigen Hals, ein dünner Uberwurf schlotterte um ihre Glieder. Und da ich, in mich verkrochen, an ihr vorbeilaufe, fährt es mir durch den verfrorenen Kopf: Müßtest du nicht helfen? Die Frau friert, leidet, ist ausgesetzt, hat am Ende keine Unterkunft, kein Geld - ja, du mußt dich um sie kümmern! Aber was kann ich tun? Meine Brieftasche ausleeren? Das reicht nicht aus, aber es wäre doch im Moment eine Erleichterung. Nun, die Frau ist längst vorübergegangen.

Hätte ich ihr nicht wenigstens das abknöpfbare Futter meines Pelzes umhängen und dann schnell davongehen sollen, damit sie sich nicht wehren kann? Ich trage es-gern, dieses wohlig wärmende Innere, das schon seit zwanzig Jahren mit mir durch Wind und Wetter läuft. Ja, ja, aber ich hätte es tun sollen. Dazu das bißchen Geld... Aber die Frau ist längst vorübergegangen. Ihr nachlaufen?

Ich mache wirklich einen Versuch, ein Windstoß treibt mich fort, von der Frau keine Spur mehr: Vergangenheit läßt sich nicht korrigieren. Ich habe wieder einmal versagt, und, ehrlich, im Grunde bin ich erleichtert, daß es so gekommen ist.

Im Sommer, im letzten, habe ich einen schönen Lodenstoff gekauft, um mir einen Trachtenanzug machen zu lassen. Nicht ganz bülig, so ein handmade Stück. An der Ecke, nein, in sie gedrückt, stand ein alter Mann. Er bettelte nicht, er fror auch nicht, nur seine Fetzen flehten für ihn. Hätte ich ihn nicht zu meinem Schneider mitnehmen können, ihm den Anzug anmessen lassen können, ihm eine ganz kleine Hilfe verschaffen können, ich selbst hätte es kaum gespürt, das Geld war da, warum säumte ich? Es wäre ein verschwindender Bruchteil meines Besitzes gewesen, ich hätte nicht mit dem Mann „geteilt“, sondern ihm nur etwas wie ein größeres Almosen gegeben.

Vielleicht wäre es aber doch eine zu bülige Tat gewesen. Nichts hätte mich hindern sollen, mehr für ihn zu tun. Arbeit hätte ich ihm nicht geben, aber am Ende vermitteln können, auch hätte es ihm wohl gut getan, daß sich einer um ihn sorgt. Wie leicht hätte ich ihm ein paar Stunden meiner oft vergeudeten Zeit widmen können, es wäre nicht mehr gewesen, als was jeder seinem Nächsten schuldig ist. Aber: nichts habe ich getan, ich ließ mir vom Schneider meinen Aufputz anmessen und ging stolz damit durch die Gassen der alten Stadt. Wer sagt mir aber, daß es mir im Leben nicht ähnlich wie dem Alten hätte ergehen können, und wie glücklich wäre ich dann gewesen, daß sich jemand meiner Armseligkeit annimmt!

Es gibt solche Menschen. Aber die meisten sind doch wie ich, sie gehen mit geschlossenen Augen am Elend der andern vorüber, schenken einem Bettler ein paar Schilling, decken ihr Gewissen mit Erlagscheinen zu, man macht es ihnen ja so bequem, und gar zu Weihnachten sind sie in Geberlaune. Aber praktisch tun sie nichts — genau wie ich. Und finden wohl meine Überlegungen ein wenig lächerlich: Marotten.

Gewiß, müßte ich darauf sagen, ein fast ohnmächtiger Versuch, Gerechtigkeit der Welt herzustellen. Und Dank ist nicht zu erwarten. Die Umwelt nennt den Geber einen Spinner, die Beschenkten ihrerseits zeigen manchmal gar keine Dankbarkeit — weshalb auch? Er besitzt doch viel mehr — und wenn er an den Falschen gerät, lacht der ihn gar aus. Ja, aber doch! Es gibt Menschen, die viel mehr für andere tun, denen die Not der Mitmenschen im Herzen brennt. Da stehe ich nun vor dem kostbar geschmückten Baum im gut geheizten Zimmer und komme über die harte Frage nicht hinweg: Bin ich ein Christ?

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