Friedhof Lesbos - © Foto: Getty Images / Christopher Furlong

Kurden auf der Flucht: Hoffnung ist ein Geigenton

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Ein trauriger Rückblick in die Zukunft: Kurden auf der Flucht – das Schicksal von Menschen unter dem Druck von Armut und Ausgrenzung im Heimatland.

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Ein trauriger Rückblick in die Zukunft: Kurden auf der Flucht – das Schicksal von Menschen unter dem Druck von Armut und Ausgrenzung im Heimatland.

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Wie wichtig Baris Yazgi seine Geige war, zeigte sich am bedrückendsten bei seinem Tod: Der 22-jährige Kurde aus der Türkei ließ das Instrument nicht einmal los, als er im Mittelmeer ertrank. Baris Yazgi war unter 16 Toten, die am 26. April geborgen wurden, nachdem wieder ein Flüchtlingsboot in der Ägäis gekentert war. Anders als die vielen Flüchtlinge, die als namenlose Opfer in die Statistik eingehen, wurde dem jungen Musiker in seiner Heimat zumindest ein kurzer Moment der Aufmerksamkeit zuteil. Die Zeitung Hürriyet schrieb: „Bis zum letzten Atemzug klammerte er sich an seine Geige.“

Die Flucht, die Baris Yazgi das Leben kos­tete, war nicht seine erste. Genau genommen war sie seine dritte: Einmal hatte er es sogar bis nach Europa geschafft. „Baris’ Geschichte hat mit Flucht angefangen, und sie hat mit Flucht geendet“, sagt sein 32-jähriger Bruder Suat Yazgi. Im Kurdenkonflikt Ende der 1990er Jahre wurde das Dorf der Familie in der südosttürkischen Provinz Siirt zerstört. Die Yazgis – sieben Söhne, zwei Töchter, Mutter und Vater – suchten wie so viele Kurden damals Zuflucht in Istanbul. Baris, dessen türkischer Name auf Deutsch Frieden bedeutet, war das jüngste der sieben Kinder. Kinder aus verarmten Familien müssen in der Türkei oft zum Lebensunterhalt beitragen. In Istanbul verkaufen manche von ihnen Papiertaschentücher auf der Straße, ein Päckchen kostet eine Lira, etwa 25 Cent. Auch drei Söhne der Yazgis verdienten auf diese Weise Geld dazu, darunter einer namens Cengiz. Cengiz trieb sich vor der medizinischen Fakultät der Istanbuler Universität herum, als er einigen Studenten ins Auge fiel, die mit ihm ins Gespräch kamen. Einer davon schenkte ihm eines Tages eine alte Gitarre.

Das Instrument veränderte Cengiz Leben. Suat Yazgi sagt, sein Bruder habe sich als erster Straßenmusiker getraut, kurdische Lieder auf der Istiklal Caddesi zu spielen, der berühmtesten Einkaufsmeile Istanbuls. Unter Kurden hat es Cengiz Yazgi als Musiker heute zu einer gewissen Bekanntheit gebracht. Cengiz gab seine Liebe zur Musik an seinen kleinen Bruder Baris weiter: Er schenkte ihm seine erste Geige. „Die Geige wurde seine Lebensfreude“, sagt ein weiterer Bruder namens Fuat. „Sie hat seinem Leben eine Bedeutung gegeben.“

Fuat Yazgi war bereits 2001 nach Europa geflohen, nicht mit einem der Schlauchboote nach Griechenland, sondern mit einem gro­ßen Schiff nach Italien. Der 34-Jährige lebt schon lange im belgischen Gent, wo er als Koch arbeitet und in einer Einzimmerwohnung wohnt. Fuat sagt, er habe inzwischen die Zusage erhalten, dass er in Belgien eingebürgert werde. „Baris hat sich in der Türkei nicht mehr wohl gefühlt“, sagt Fuat. Sein kleiner Bruder habe sich zwar nicht politisch engagiert. „Aber du musst nicht politisch aktiv sein, um den Druck zu spüren.“

Die Überfahrt

Im Januar 2016 machte sich Baris das erste Mal auf den Weg zu seinem Bruder in Europa. Damals war der umstrittene Flüchtlingspakt zwischen der EU und der Türkei noch nicht in Kraft. Das Abkommen sieht vor, dass Flüchtlinge von den griechischen Inseln zurückgeschickt werden. Für Baris war der Weg Anfang vergangenen Jahres noch verhältnismäßig einfach. Er setzte von der westtürkischen Küste aus auf eine der griechischen Ägäis-Inseln über, gelangte nach Athen und schließlich mit dem Zug nach Belgien, wo er einen Asylantrag stellte.

Allerdings kam Baris in den Wirren der Flucht die Geige abhanden, die Cengiz ihm geschenkt hatte. Der Bruder schickte ihm Ersatz nach – mit der Post. „Baris war ganz aufgeregt“, sagt Fuat. „Ich musste ihn beruhigen und ihm versichern, deine Geige kommt schon an.“ Als Baris wieder ein Instrument hatte, spielte er mit einer lokalen Musikinitiative namens „De Propere Fanfare“ in Gent. Die Weltmusik-Band hat nach Baris’ Tod ein kurdisches Klagelied zum Gedenken an den Geiger einstudiert und auf YouTube veröffentlicht.

Der Bruder von Baris beklagt, die Behörden, aber auch die Menschen in Çanakkale hätten sich an das illegale Geschäft der Schlepper gewöhnt – und an die sterbenden Flüchtlinge.

Bei einem Konzert in der Nachbarschaft lernte der Musiker Megan und Yves Peters kennen. „Er kam uns besuchen und aß manchmal zu Abend bei uns“, sagt Yves Peters. Seine Ehefrau Megan schrieb nach Baris’ Tod auf Facebook, der junge Kurde habe sich schnell integriert gehabt. „Nachdem wir auch Musiker sind, haben wir uns sofort gut mit ihm verstanden. Baris kam und half uns, Gemüse zu pflanzen, er nahm an unseren Straßen-Grillfesten teil und verbrachte einfach Zeit bei uns und spielte uns Ständchen auf seiner Geige.“ Es sei deutlich gewesen, „dass er sein Leben anpacken und etwas daraus machen wollte“.

Yves Peters hat Fotos gemacht von Baris, als der Kurde mit dem dunklen Lockenkopf und dem verträumten Blick im Juni vergangenen Jahres auf einem Straßenfest im Viertel Geige spielte. Die Bilder zeigen eine westeuropäische Idylle: Die Nachbarschaft hatte Tische und Sonnenschirme aufgebaut, es gab Kaffee und Sekt, auf dem Gehsteig spielten Mädchen in Badeanzug und Bikini. Doch auch wenn Baris freundlich aufgenommen wurde: Das Heimweh wurde immer stärker. Sein Bruder Fuat aus Gent sagt: „Er vermisste die Familie.“

Nach einem halben Jahr kehrte Baris daher zurück in die Türkei, er meldete sich ordnungsgemäß in Gent ab, sein Asylantrag verfiel. Das Datum seiner Ankunft in Istanbul: Der 15. Juli 2016. Wenige Stunden später begann der Putschversuch in der Türkei. Panzer rollten durch Istanbul, Soldaten besetzten die Bosporus-Brücke, Kampfjets donnerten im Tiefflug über die Stadt und brachten Fensterscheiben zum Bersten.

„Er hat damals schlagartig bereut, dass er zurückgekommen ist“, sagt Suat in Istanbul. Nach Baris’ Tod fand die Familie in seinen Sachen ein Busticket an die Ägäisküs­te, das auf den 17. Juli ausgestellt war. „Wir glauben, dass er sich da schon wieder auf den Weg machen wollte. Familie, Freunde, alle haben ihm abgeraten, noch einmal zu gehen.“ Danach sprach Baris nicht mehr über seine Fluchtpläne, die Familie wusste aber, dass er immer wieder in die Provinz Çanakkale fuhr, von deren Küste aus die Schlauchboote Richtung Lesbos aufbrechen. Inzwischen war der Flüchtlingspakt in Kraft – „ein Abkommen auf Kosten von Menschenleben“, wie Fuat es nennt.

Der Musikant

In Istanbul schlug sich Baris in den kommenden Monaten als Musiker durch. „Wenn zum Beispiel jemand einer Freundin einen Heiratsantrag machen wollte, konnte er Baris buchen, damit er ihn auf der Geige begleitet“, sagt Suat. Außerdem arbeitete Baris in einem Hotel an der Rezeption, um sein Englisch zu verbessern. „Am liebsten hätte er nur Straßenmusik gemacht und so sein Geld verdient.“ Baris wohnte mal bei seiner Familie, mal bei seinem Musiker-Bruder Cengiz. Dann war er plötzlich weg und mit ihm eine seiner Geigen.

Suat ist Kellner im Soho-Haus, einem schicken Restaurant im Zentrum Istanbuls. Er war bei der Arbeit, als er auf seinem Handy die Nachricht las, dass ein Boot in der Ägäis gekentert sei. „In der Zeit saßen wir wie auf heißen Kohlen, weil wir wussten, dass er immer wieder nach Çanakkale fährt“, sagt Suat. „Ich habe versucht, Baris anzurufen, habe ihn aber nicht erreicht.“ Im Messenger-Dienst WhatsApp sah er, dass Baris seit Stunden nicht mehr online war.
Cengiz habe daraufhin bei der zuständigen Polizeiwache an der Küste angerufen. Cengiz fragte den Polizisten: „Gab es da einen Jungen mit einer Geige?“ Der Polizist fragte zurück: „Woher wissen Sie das? Wir haben eine Leiche gefunden mit einer Geige“. Die Mutter – die den Tod ihres Ehemannes drei Monate zuvor noch nicht verkraftet hatte – sei zusammengebrochen. „Sie klagt heute noch: Soll die Welt doch untergehen und ich mit ihr“, sagt Suat, dem selber die Tränen kommen, wenn er erzählt. „Baris war das Lieblingskind meiner Mutter.“

Suat versucht seitdem verzweifelt, die verantwortlichen Schlepper zur Rechenschaft ziehen zu lassen. Ohne Erfolg: Der Staatsanwalt empfange ihn nicht und lasse ihn am Telefon abwimmeln, kritisiert er. Bei der Küs­tenwache habe man ihm erzählt: „Wir fangen die Menschenschmuggler zwar, aber dann werden sie freigelassen und wir sehen sie eine Woche später wieder. Die lachen uns ins Gesicht.“ Suat beklagt, die Behörden, aber auch die Menschen in Çanakkale hätten sich an das illegale Geschäft der Schlepper gewöhnt – und an die sterbenden Flüchtlinge. „Das ist Mord. Aber niemand kümmert sich darum.“

Zwei Frauen aus Afrika - eine davon schwanger - seien die einzigen Überlebenden aus dem Boot von Baris gewesen, sagt Suat. Sie hätten angegeben, 25 Menschen seien in dem überladenen Boot unterwegs gewesen. Einige der Toten wurden anscheinend nie geborgen.
„Unser einziger Trost ist, dass zumindest sein Leichnam gefunden wurde“, sagt Suat. Er selber habe die rituelle Waschung der Leiche seines Bruders vollzogen, dessen Hände noch im Tod in einem Klammergriff verharrt hätten. Er habe die Finger einzeln aufbiegen müssen. Fuat sagt: „Baris konnte schwimmen. Wir gehen davon aus, dass er seine Geige retten wollte.“

Die Familie hat Baris in Istanbul begraben. Die Geige sei vom Meerwasser beschädigt worden, sagt Suat. „Cengiz wird sie reparieren lassen, damit Baris darin weiterlebt.“ Das Instrument soll auf jeden Fall in der Familie bleiben. „Die Geige ist für uns wie ein Andenken.“ Ein stilles Andenken soll sie allerdings nicht bleiben. Eine der beiden Schwestern von Baris wolle das Instrument nehmen, wenn es repariert ist, sagt Suat. „Sie will jetzt auch Geige lernen.“

Can Merey war Leiter des Nahostbüros der dpa. Linda Say stammt aus Wien und ist Mitarbeiterin der dpa in Istanbul. Die Nachzeichnung des Schicksals von Baris Yazgi entstand 2017 für die dpa.

Fakt

Grausame Offensive und zahnlose Sanktionen

Invasion Nordsyrien - © Foto: APA / AFP / Bakr Alkasem
© Foto: APA / AFP / Bakr Alkasem

Wenige Tage nach dem Beginn der türkischen Offensive in Nordsyrien wächst international der Druck auf Ankara. Deutschland, die Niederlande und Norwegen setzten ihre Waffenexporte in die Türkei aus. Die Arabische Liga verurteilte in einer Dringlichkeitssitzung am Samstag den türkischen Einmarsch in das von den Kurden kontrollierte Gebiet als „Aggression“ und rief die Türkei zum „sofortigen und bedingungslosen Abzug“ auf.

Die türkischen Truppen und ihre syrischen Verbündeten waren laut der „Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte“ am Samstagmorgen aus drei Richtungen auf die nordsyrische Grenzstadt Ras al-Ain vorgerückt. In der Grenzstadt Tall Abyad wurden dabei mindestens neun Zivilisten grausam hingerichtet. Nach kurdischen Angaben war darunter auch eine bekannte Kurdenpolitikerin, sie soll nach den Angaben vergewaltigt und getötet worden sein. Nach Angaben des Independent sind die Mehrheit der Truppen unter türkischem Kommando ehemalige IS-Kämpfer. Entsprechend grausam sind diese Milizen im Kampf gegen die Zivilisten. Es soll zu mindestens einer Steinigung gekommen sein. Seit dem Beginn der Offensive wurden nach Angaben der Beobachtungsstelle mehr als 70 kurdische Kämpfer sowie rund 40 Zivilisten getötet. Nach UN-Angaben flohen bereits mehr als 100.000 Menschen vor den Kämpfen.

Die Türkei hatte am Mittwoch nach einem Rückzug von US-Soldaten aus dem syrischen Grenzgebiet ihre lange angedrohte Militäroffensive gegen die Kurdenmiliz YPG begonnen. Die USA und andere westliche Staaten hatten den türkischen Militäreinsatz von Beginn an heftig kritisiert, da sie in der YPG den wichtigsten Partner im Kampf gegen die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) sehen. Sie fürchten ein Wiedererstarken der IS-Miliz. Allerdings hatten die USA den Vormarsch der Türkei aber davor auf höchster Ebene (US-Präsident Trump) „genehmigt“. Mit Erleichterung reagieren Anleger auch auf die vergleichsweise moderaten US-Sanktionen gegen die Türkei. Dies verhilft dem Leitindex der Istanbuler Börse zu einem Kursplus von zwei Prozent. Der Bankenindex ging ebenfalls auf Erholungskurs und legte knapp vier Prozent zu. In der Türkei selbst sind vier Bürgermeister kurdischer Städte unter dem Vorwurf festgenommen worden, Verbindungen zur verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu haben. Die prokurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) teilte am Dienstag mit, die Polizei habe die Ko-Bürgermeister von Hakkâri, Yüksekova, Erciş und Nusaybin festgenommen. (ag/tan)

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