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Ukraine-Krieg: Russlands stiller Widerstand

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Mitnichten unterstützen alle Russen Putins Vernichtungszug in der Ukraine. Doch die Möglichkeiten des Protestes sind begrenzt. Die Schriftstellerin und Slawistin Katharina Tiwald über stillen Widerstand im Land.

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Mitnichten unterstützen alle Russen Putins Vernichtungszug in der Ukraine. Doch die Möglichkeiten des Protestes sind begrenzt. Die Schriftstellerin und Slawistin Katharina Tiwald über stillen Widerstand im Land.

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Wanja, den Biologen, Poeten, Tausendsassa der Kommunikation, habe ich im Herbst 2001 kennengelernt, als wir in einem fröhlichen Petersburger Beisl in der Schlange vor der (einzigen) Toilette standen. Ich war Anfang 20 und nutzte jede Gelegenheit, um aus dem Studentenheim für Ausländer auszubrechen, wo am Eingang eine ältere Dame über unsere Zimmerschlüssel wachte.

Es war die Zeit, als auf dem Newski-Prospekt, der Hauptschlagader der Stadt, neben den schicken Boutiquen Mütterchen vom Land versuchten, Kätzchen und Selbstgestricktes zu verkaufen, um irgendwie über die Runden zu kommen. In Wanjas Wohnung, einer verschachtelten Zeitreisebox aus dem 19. Jahrhundert, saß ich in Küchentischrunden, trank Krenlikör, bekam Tee nach jedem Überschuss Wodka und baute an meinem Russisch.

In dieser Wohnung versammelten sich am Tag der Präsidentschaftswahl 2012 Mitglieder einer NGO und koordinierten telefonisch juristische Beratung für Wahlbeobachter; es hieß, ich solle drohen, meine Botschaft anzurufen, falls die Polizei auftauchen sollte. Wanja zeigte mir eine Handreichung für unabhängige Beisitzende in Wahlkommissionen. Ein Tipp: Man solle immer eine Taschenlampe dabeihaben. Denn manchmal werde beim Auszählen der Stimmen das Licht abgedreht.

Die Krim ist mythisch umflort

Fast zehn Jahre danach, am Tag nach der russischen Invasion der Ukraine, rief ich Wanja an. Er klang regelrecht entsetzt, als er sagte: Katja, das hat keine Logik mehr. Bisher haben wir gedacht, die Wahlfälschungen, na gut, das ist Putins Vorliebe für die alten Geheimdienstmethoden, sogar die Annexion der Krim, na gut – wobei es junge Frauen gebe, die auf ihrem Tinder-Profil potenzielle Interessenten vorsorglich mit der Frage, wem die Krim gehöre, nach Kompatibilität abklopften.

Aber die Krim, Katja, sagte er, das war noch irgendwie einzuordnen, die Staatlichkeit der Ukraine war noch wackelig, es lebten wenige Ukrainer dort, und die Krim ist für Russen geradezu mythisch umflort. Aber das hier, das fühlt sich an wie 1941. Unter umgekehrten Vorzeichen. Die Leute, sagte er, spürten das, haben begonnen, Geld und Lebensmittel zu bunkern. Wir nahmen bedrückt voneinander Abschied. Grigorij ist Wanjas Neffe und leitet eine Schlafstelle für Obdachlose.

Ich habe ihn lange nicht persönlich gesehen, aber auf Facebook lese ich seine berührenden Geschichten über die Menschen, die er betreut; erst kürzlich teilte er das Bild eines ehemaligen Klienten, der sich mit der inzwischen geborenen Tochter fotografiert hatte.

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