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„Diverse Wunder" von Thomas Stangl: Täuschungen, Brüche, Poesie

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Was, wenn die herkömmliche Welt auseinanderbricht und Fiktion in die Wirklichkeit hineinwächst? In Thomas Stangls literarischem Universum scheinen die Koordinaten des Erzählens neu verlegt worden zu sein.

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Was, wenn die herkömmliche Welt auseinanderbricht und Fiktion in die Wirklichkeit hineinwächst? In Thomas Stangls literarischem Universum scheinen die Koordinaten des Erzählens neu verlegt worden zu sein.

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Der Wiener Autor Thomas Stangl ist bereits vielfach ausgezeichnet worden. Erst im Jänner hat er für seinen Roman „Quecksilberlicht“ den renommierten Bremer Literaturpreis erhalten. Begründet hat die Jury dies unter anderem mit „nicht nachlassender Sprach- und Imaginationskraft“. Ein glitzerndes Ausloten des Kosmos Sprache in verschiedensten Facetten und Formen kennzeichnet wohl Stangls gesamtes bisheriges Werk.

Seine neue Publikation „Diverse Wunder“ knüpft – was die epische Form anbelangt – mit „ein paar Handvoll sehr kurzer Geschichten“ an seinen Erzählband „Die Geschichte des Körpers“ an. Obwohl im Stangl’schen Fabulieruniversum, das gleichermaßen Menschen, Tiere und Dinge bevölkern, gewöhnliche narrative Regeln vielfach außer Kraft gesetzt sind, schimmern auch hier permanent Erzählfäden durch, die thematische Einheiten oder Weiterspinnendes, quasi Fortsetzungen, entdecken lassen. Im Prolog klingt bereits Programmatisches durch: Der vorliegende Stoff bedarf einer Reinigung. Es ist „alles abzuschaben, was überflüssig ist“. Mit diesen frischen, vom Ballast befreiten Sätzen begibt man sich bei der Lektüre an einen gänzlich neuen Ort.

Den Anfang macht ein winziger Fisch. Unscheinbar, aus kleinsten Steinchen zusammengesetzt, harrt er in einer ausgetrockneten Mauer inmitten von Ruinen der Besucher und wartet auf deren Blicke. Ein paar Texte später jagt ein Hund, vielleicht derselbe, den später ein Hundemaler in Venedig gemalt haben wird und der aus dem Bild in die Realität gesprungen ist, durch ein südliches, nahe bei Rom liegendes Ruinengelände. Plötzlich ist da wieder ein Steinfischchen auf einem Mosaik – dasselbe? –, das über Jahrhunderte hindurch beharrlich jede Art von Witterung überdauert hat. Der Hund jedoch stellt nüchtern fest: „Du stehst für nichts. Du bist reines Erstaunen.“ Und doch hält gerade dieser Fisch „ein altes Gemäuer, einen Ort, einen einzigen Ort zusammen, mit seinen Blicken, mit seinem Schlaf, seiner Gleichgültigkeit“.

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„Du stehst für nichts. Du bist reines Erstaunen.“

Kurios und rätselhaft gestaltet sich auch die Episode, in der ein junger Mann einer unbekannten Frau mit ihrem im Zug vergessenen Handy nacheilt – ohne Mantel und Gepäck. Er erwacht in einer fremden Wohnung, ohne zu wissen, bei wem er war, wo und wer er ist. „Er muss sich einen Namen aussuchen.“

Stangl zoomt Details heran, die „Leerstellen in alten Fresken“, Verwundungen, das Schälen einer Orange oder Modernes wie den Staubsaugerroboter, um sie in einem neuen Kontext zu betrachten. Häufig arbeitet er mit changierenden Bewusstseinswelten, in denen Täuschung, Trugbilder und Grenzüberschreitungen regieren. Mitten in der Stadt kann man, so heißt es, von der Weihburggasse aus in einen unterirdischen Wald gelangen. Dort lassen sich Kühle und Einsamkeit aufspüren. Nur wenige finden den Weg dorthin. Aber vielleicht reicht es auch schon, nur „von dem Wald zu wissen“. Sogar Terror ist dort möglich. „In dieser Stille. In dieser sanften, schimmernden Stille.“

Was ist schon wirklich, und wie verschwimmen Realität und Fiktion? Viele dieser Texte durchzieht ein lustvolles, antithetisches Spiel mit den Grenzen von Welten, mit Wahrnehmungen und Kohärenz. Stangl wechselt beherzt Perspektiven, verknüpft die einzelnen Texte miteinander, indem er einzelne Figuren in einer anderen Geschichte wieder auftreten lässt, und lässt Absurdes ganz nebenbei zum Fluchtpunkt werden, zum Beispiel wenn man auf der anderen Seite, genauer gesagt auf der „Rückseite der Welt“, wieder erwacht. Fast fühlt man sich hier an Kafkas orientierungslosen Protagonisten in dessen parabelartigem Text „Gib’s auf“ erinnert, der in einer fremden Stadt nach dem Weg fragt und kläglich scheitert. Die neue andere Welt des Ich-Erzählers gestaltet sich ebenfalls feindlich, trostlos. War es ein Traum? Aber da ist dieser „Keil, der sich vom Hinterkopf her durch meinen ganzen Körper bohrte“. Es bleibt die Aufgabe, diesen Keil zu zeichnen und das Ganze in Bewegung zu setzen: „Sie haben den Rest Ihres Lebens dafür Zeit.“ Auch Wittgenstein taucht auf. Eine Fotografie, die ihn am Totenbett zeigt und die Verwandtschaft mit dem Raum unterstreicht, dabei Gedanken über das „absolute Kästchen“. Das Schreiben und Ringen um Worte wird ebenso zum Thema wie der Kunstbetrieb.

In diesen kurzen, schwebend erzählten Geschichten voll kleiner Weisheiten, voll Brüche, Metamorphosen und zartbitterer Poesie zeigt Stangl, wie fragil Realität sein kann. Plötzlich einmal von der anderen Seite betrachtet, sieht alles anders aus. „Das Licht will sich an andere Zeichen schmiegen.“

stangl - © Droschl
© Droschl
Literatur

Diverse Wunder

Ein paar Handvoll sehr kurzer Geschichten
Von Thomas Stangl
Droschl 2023
108 S., geb., € 20,–

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