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Grenze durch die Stadt

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DIE DOPPELSPUR DER BAHN hört ab Sigmundsherberg auf. Das zweite Geleise wurde, wie man vorgibt, aus Ersparungs-gründen entfernt. „Wir liegen im Winkel, am Ende der Welt“, sagte mir am Bahnhof von Gmünd ein Eisenbahner. „Ich glaub', die in Wien vergleichen uns mit einem Mann, der seinen Kopf in der Schlinge hat. Zugezogen ist sie noch nicht — aber wer kann wissen, was uns noch bevorsteht? Wir haben hier zuviel Abwechslung an Namen während der letzten dreißig Jahre gehabt.“ Und vor dem Arbeitsamt meinte ein landwirtschaftlicher Arbeiter: „Das ist einfach gesagt, wo Sie hier sind: Im österreichischen Sibirien, dort, wo der Bauer zum Hafermähen die Fäustlinge anzieht.“ Durch die herbe Luft, in der man vom Frühling, der anderwärts bereits die Bäume blühen läßt, noch wenig spürt, kommt ein fernes Rollen. Ein Gewitter? Der Radfahrer, der neben mir hält, mit einem Fuß auf dem Randstein, mit dem anderen im Trefkorb, und dabei eine Thermosflasche besser in der Aktentasche verstaut, hebt horchend den Kopf. „Gewitter dieser Art haben wir das ganze Jahr. Einmal donnert's im Norden, dann im Nordwesten: Das sind Manöver oder Sprengungen von verfallenen Häusern drüben im Böhmischen.“

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IM WINKEL! Rein bildlich stimmt es für die siebenhundertjährige Kuenringerstadt am Zusammenfluß von Lainsitz und Braunau. Seit dem Vertrag von Saint-Germain — mit Ausnahme der kurzen Episode zwischen 1939 und 1945 — ist Gmünd zweigeteilt. Das nordwestliche Hinterland — seinerzeit zu 85 Prozent deutschsprachig — ging mit der Besetzung am 31. Juli 1920 an die Tschechoslowakei. Niederösterreich verlor sieben Gemeinden des Gerichtsbezirks Gmünd und eine des Gerichtsbezirl Schrems völlig, sechs Gemeinden der Bezirke Gmünd, Schrems und Weitra teilweise. Das entsprach einer Fläche von 11.819 Hektar und einer Bewohnerzahl von 8605, und kam beinahe der Hälfte des Gebietes gleich, das Niederösterreich abtreten mußte (die andere Hälfte betraf Feldsberg). An einer großen Wandkarte zeigte mir der Bürgermeister die eigenartige Lage der Stadt. Gmünd I: Das ist die Altstadt. Gmünd II: Das ist jener Teil, der auf die Errichtung eines Flüchtlingslagers während des ersten Weltkrieges zurückgeht, wesentlich größer als Gmünd I. Gmünd III: Das liegt jenseits der Lainsitz und heißt heute ebenso wie nach 1920 Ceske Velenice. Die Abtrennung dieses Gebietes erfolgte aus reiner Verkehrsstrategie: Im Hauptbahnhof, wo auch die großen Eisenbahnausbesserungswerke liegen, gabeln sich die Strecken nach Prag und nach Eger. Die Stadt Gmünd, die vor dem letzten Krieg 465 8 Einwohner gezählt hatte, wuchs 1942 durch die verfügte Eingemeindung des jenseits der Lainsitz gelegenen Teiles auf 9558 Einwohner an. Mit Kriegsende, als der Gebietszustand von 1920 wiederhergestellt wurde (freilich zusätzlich der Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung in Gmünd III und Umgebung), verminderte sich die Bewohnerzahl nicht, da die, Flüchtlinge beherbergt werden mußten. Am 10. Oktober waren daher 9607 Einwohner in 2961 Haushalten ansässig. Ob-zwar es gelang, seither viele Flüchtlinge anderwärts unterzubringen, ist Gmünd, die Stadt mit der Grenze durchs Herz, heute volkreicher als 1938 und zählt 6523 Einwohner in 2301 Haushalten.

DER ZUWACHS DER BEVÖLKERUNG und das Fehlen eines Grundbeschaffungsgesetzes sowie der Mangel eines Generalbebauungsplanes nach dem ersten Weltkrieg/ haben die Stadtverwaltung vor schwierige Aufgaben gestellt, die nur in gemeinsamer Arbeit aller, gleich, welcher Partei sie angehörten, gemeistert werden konnten. Der Gemeinderat — er setzt sich nach der kürzlich durchgeführten Wahl aus 16 Vertretern der SPÖ und 10 der ÖVP zusammen — muß noch immer der Wohnungsfrage ein Hauptaugenmerk schenken. Seit 1945 hat die Gemeinde 182 Wohnungen gebaut; 25 sind eben in Bau und 38 befinden sich in Planung. Von privaten Bauwerbern und Siedlungsgenossenschaften wurden seit 1945 insgesamt 539 Wohnungen fertiggestellt. Der Mietzins liegt in den Gemeindebauten (die Stadtgemeinde ist der größte Hausherr: 330 Mieter) bei 4.60 Schilling je Quadratmeter. In Gmünd II erstand die moderne neunklassige Dr.-Karl-Renner-Volksschule. Durch den Neubau war es möglich, die Mittelschule im ehemaligen Volksschulgebäude von Gmünd I, am Stadtplatz Nr 35—36, einzuquartieren. Diese Schule entspricht — wie wäre es bei unserer Schulraummisere auch anders möglich - nicht den Anforderungen einer modernen Anstalt. Zwei Klassen sind übrigens im Pfarrhof, eine ist in einem abbruchreifen Haus untergebracht. „Es wird zwei, vielleicht auch drei 'Jahre dauern“, meinte der Vizebürgermeister, „bis das neue

DER WIND PFEIFT AUS BÖHMEN. Man blickt immer wieder von Haus zu Haus und kann es nicht glauben. Da ist Gmünd, dort ist Gmünd, aber die Menschen haben beträchtliche Schwierigkeiten, sich zu besuchen. „Außer dann, wenn einmal irgendwelche internationale Veranstaltungen stattfinden, wie es das letzte Mal die Weltjugendfestspiele in Wien waren. Damals hat man für die Verschönerung des Grenzzaunes beiderseits der Straße etwas getan — soweit eben der Blick der Autobusfahrgäste reichen konnte“, sagte der Arbeiter der Fabrik, der eben die Plattform des Silos betrat. „Da haben die drüben aus dem rostigen, breiten Drahtgitter einen hübschen Zaun gemacht, der einer Reklame für eine Drahtgitterfabrik würdig wäre. Sieht wie eine Umfriedung eines Gartens aus. Aber von Frieden redet man nur. Und was Garten betrifft — ich möchte kein Gartenhüter sein.“ Die Fabrik, in der wir uns befinden, ist gegenwärtig die modernste Anlage ihrer Art in Europa. Während der Kampagne sind 300, sonst 150 Arbeiter beschäftigt, Kartoffel zu verarbeiten. Auch Trok-kenmilch kommt aus Gmünd. 1958 waren es 36 Millionen Liter Milch, die man verarbeitet hat. Die Kartoffelverwertungsgesellschaft war bereits bei ihrer Gründung die größte Stärkefabrik Österreichs. Wir steigen wieder von der Plattform hinunter und fahren durch die weitläufige Stadt, deren gemischte Industrie gegenwärtig etwa 1200 Arbeiter und Angestellte beschäftigt. Man erzeugt bei „Bobbin“ Möbel, bei Brüder Baumann Textilien. Hier hat man in einer Zeit, in der wenige für die Zukunft etwas voraussagen wollten, ein' Beispiel von Tüchtigkeit und Glauben an die österreichische Zukunft gegeben: Mit zwanzig Arbeiter hat die Textilfabrik im Jahre 1945 begonnen, heute beschäftigt sie 250 Arbeiter und Angestellte.

HAT DAS RATHAUS SORGEN? Viele, höre ich, während der Bürgermeister im Voranschlag blättert. „Da ist die Sanierung des Wasserwerkes. Wir exportieren vom Städtischen Wasserwerk jährlich 70.000 Kubikmeter in die Tschechoslowakei. Dann — unser Krankenhaus: Dort brauchen wir dringend einen Aufzug für die Operierten, Teeküchen und Dienstzimmer sollten hergerichtet werden. Unsere Hauptschule muß eine Zentralheizung bekommen, das wird uns eine halbe Million Schilling kosten. Die anormale Ausdehnung der Stadt, auf deren Gebiet leicht 50.000 Einwohner Platz fänden, zwingt zu unverhältnismäßig hohen Aufwendungen für das Wasserleitungsnetz — fünfundzwanzig Kilometer ist es lang — und für die Straßen von 35 Kilometer Länge! Bei einem ordentlichen Haushalt von mehr als acht Millionen und einem außerordentlichen von fast drei Millionen Schilling müssen große Beträge für die Fürsorge, für die Schulen und die zwei Büchereien, für das Krankenhaus und — nicht zu vergessen — für den Wohnbau bereitgestellt werden. Noch hundert Wohnungen — elf Millionen Schilling Kosten —, und in Gmünd gehört die Wohnungsnot der Vergangenheit an.“

BESUCH IN GMÜND-NEUSTADT, in der Pfarre. Die Einwohnerzahl von fast 3400 von Gmünd II und die weite Entfernung von der viel zu kleinen Stadtpfarrkirche zwangen zur Errichtung einer eigenen Pfarre, „Zum heiligsten Herzen Jesu“. Die neue Kirche am Stacheldraht ist weithin jenseits der Grenze sichtbar, und das prächtige Geläute ihrer vier Glocken ist auch hörbar. „Immer wieder erzählen mir Menschen, die von drüben kommen“, so sagte mir der Pfarrer P. Richard Wagner von den Patres Oblaten, die bis zur Vertreibung in Böhmen gewirkt hatten, „wie sie Mut und Erhebung schöpften, als sie den Glockenklang hörten.“ Die Seelsorge ist nicht leicht. Immerhin ist der Kirchenbesuch für eine Industriestadt gut. Es gibt aktive Jugendgruppen, KAJ, KLJ, Jungschargruppen, Pfadfinder - alles in allem zehn Gruppen. Die Mission im Herbst 1958 haben 50 Prozent der Pfarrangehörigen mitgemacht (Sakramentenempfang). Neben dem bekannten Kirchenchor von Gmünd I besitzt auch Gmünd II einen Chor und einen eigenen Knabenchor, mit dem sich Kaplan P. Rudi de Greve viele Mühe gibt. Sehr schön klingt die vierungzwanzigregistrige Orgel der Herz-Jesu-Kirche.

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AUF DEM WEG ZUR LAINSITZ. Wir queren die Schmalspurbahn nach Litschau und stehen an den rotweißroten Pfählen. Drüben, beim tschechischen Straßenzollamt, zeigt sich ein Posten. Es sind keine hundert Meter bis zu ihm. Man sieht, wie er seine Maschinenpistole schultert. Ich hebe den Photoapparat. „Sie werden doch nicht photographieren?“ fragt mein Begleiter. „Warum nicht, wir sind einen Meter vor der Grenzlinie“, sage ich. In dem Augenblick, da ich den Apparat hebe, verschwindet der Posten um die Hausecke. Rechts von uns läuft ein unendlich lang scheinender Drahtzaun. Kein Gärtner hat ihm zum Schutz von Gemüse oder Blumen errichtet. Drüben auf der Straße, abseits vom Wachhaus, steht ein Mann. Er schaut unablässig her. Was will er? Da kommt ein Zug von Gmünd nach Litschau. Auf der letzten Plattform steht eine Frau und winkt dem Mann zu. „Das machen sich die Leute oft aus“, sagt mein Begleiter. „Sie schreiben sich den Zugabgang. Das ist ihr einziger Gruß, den sie über die Grenze hinweg tauschen können.“ Ich wende mich um. Das Gasthaus hinter mir heißt „Swoboda“. Auf deutsch: Freiheit.

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