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Atombombe auf Hiroshima: Der Zeuge

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Ein Briefwechsel mit dem Bombenflieger von Hiroshima.

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Ein Briefwechsel mit dem Bombenflieger von Hiroshima.

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Claude R. Eatherly war einer der Superpiloten, die für die „Hiroshima-Mission“, das heißt: für die Bebombung Hiroshimas, ausgewählt worden waren. Er saß am Steuer des B 29 Straight Flush und gab dem ihm folgenden Bombenflugzeug über Hiroshima das „Go-ahead"-Signal. Nach seiner Entlassung aus dem Dienst unternahm Eatherly zwei Selbstmordversuche und machte sich mehrerer „normaler" Vergehen, wie Fälschung, Raub, Hausfriedensbruch usw., schuldig, woraufhin er in einer der für ehemalige Soldaten eingerichteten psychiatrischen Anstalten interniert wurde. In dieser befindet er sich heute. Er fühlt sich von den Tausenden von Toten verfolgt — ein Zustand, den die Aerzte als abnorm, und nur durch Oedipuskomplex erklärbar, bezeichnen. (Dazu siehe „Newsweek“, 15. Mai 1959, unter „Psychiatry".) Wir bringen im folgenden den Brief des in Wien lebenden Schriftstellers Günther Anders und die Antwort Claude Eatherlys unseren Lesern als ein Dokument zur geistigen Situation unserer Zeit zur Kenntnis. „Die Furche“

Der Brief von Günther Anders

Herrn Claude R. Eatherly
formerly Major AF
Veterans Administration Waco
Texas Hospital

Lieber Herr Eatherly,

den Schreiber dieser Zeilen kennen Sie nicht. Sie dagegen sind uns, meinen Freunden und mir, bekannt. Wie Sie mit Ihrem Unglück fertig werden oder nicht fertig werden, das verfolgen wir, gleich, ob wir in New York sitzen, in Wien oder Tokio, klopfenden Herzens. Nicht, weil wir neugierig wären; oder weil Ihr „Fall" uns medizinisch oder psychologisch interessierte. Wir sind weder Mediziner noch Psychologen. Sondern deshalb, weil wir damit beschäftigt sind, voll Angst und brennender Sorge damit beschäftigt sind, uns über diejenigen Moralprobleme klarzuwerden, die uns allen heute den Weg verstellen Die Technisiertheit des Daseins: die Tatsache, daß wir ahnungslos und indirekt, gewissermaßen als Maschinenschrauben, in Handlungen verwickelt werden können, deren Effekte wir nicht übersehen und die wir, wenn wir die Effekte übersähen, nicht bejahen könnten — die hat unser aller sittliche Situation von Grund auf verändert. Die Technik hat es mit sich gebracht, daß wir auf eine Weise „schuldlos schuldig“ werden können, die es früher, in der technischen noch nicht so vorgeschrittenen Zeit unserer Väter, noch nicht gegeben hatte.

Sie verstehen, was Sie damit zu tun haben: Schließlich gehören Sie ja zu den ersten, die sich in diese neuartige Schuld, in die sich heute oder morgen jeder von uns verstricken könnte, wirklich - verstrickt haben. Ihnen ist es so gegangen, wie es uns allen morgen gehen könnte. Aus diesem Grunde also spielen Sie für uns die große Rolle eines Kronbeispiels, ja die eines Vorläufers.

Vermutlich ist das Ihnen gar nicht recht. Sie wollen Ihre Ruhe haben, your life is your business. Wir versichern Ihnen, daß wir Indiskretion genau so wenig lieben, wie Sie es tun, und wir bitten Sie um Verzeihung. Aber in diesem Falle ist Indiskretion leider unvermeidlich, ja sogar geboten. Da der Zufall (oder wie immer wir die unbestreitbare Tatsache nennen) es gewollt hat, Sie, den Privatmann Claude Eatherly, in ein Symbol der Zukunft zu verwandeln, ist Ihr Leben auch unser Business geworden. Daß gerade Sie und nicht irgendein anderer unter den Milliarden von Zeitgenossen zu dieser Symbolfunktion verurteilt worden sind, das ist Ihre Schuld nicht, und es ist gewiß entsetzlich. Aber es ist nun einmal so.

Und dennoch: Glauben Sie nicht, daß Sie der einzige derart Verurteilte sind. Denn wir alle haben ja in dieser Epoche zu leben, in der wir in solche Schuld hineingeraten könnten; und so wenig wie Sie sich Ihre unselige Funktion, so wenig haben wir uns diese unselige Epoche selbst ausgesucht. In diesem Sinne sind wir also, wie Sie als Amerikaner sagen würden, „in the same boat", in einem und demselben Boot, ja wir sind Kinder einer einigen Familie. Und diese Gemeinsamkeit bestimmt unsere Beziehungen zu Ihnen: Wenn wir uns mit Ihrem Leiden beschäftigen, so tun wir das als Geschwister, also so, als wären Sie ein Bruder, dem das Unglück zugestoßen ist, dasjenige wirklich zu tun, was jeder von uns morgen zu tun gezwungen werden könnte; als Geschwister, die hoffen, dieses Unglück vermeiden zu können, so wie Sie heute, schrecklich vergeblich, hoffen, Sie hätten es damals vermeiden können.

Aber damals war das eben nicht möglich gewesen: Die Befehlsmaschinerie hatte lückenlos funktioniert, und Sie waren damals noch jung und einsichtslos gewesen. Sie haben es also getan. Aber da Sie es getan haben, können wir durch Sie erfahren, und eben nur durch Sie, wie es uns ergehen würde, wenn wir an Ihrer Stelle gestanden hätten, wenn wir an Ihrer Stelle stehen würden. Sie sehen: Sie sind ungeheuer wichtig für uns, geradezu unentbehrlich. Gewissermaßen unser Lehrer.

Natürlich werden Sie diesen Titel abwehren. „Nichts weniger als das", werden Sie antworten, „denn ich werde mit meinem Zustande ja gerade nicht fertig."

Sie werden erstaunt sein, aber gerade dieses „nicht“ ist es, was für uns den Ausschlag gibt. Ja, was für uns sogar tröstlich ist. Ich weiß, diese Behauptung klingt erst einmal sinnlos. Darum ein paar Worte der Erklärung.

Ich sage nicht: „tröstlich für Sie". Nichts liegt mir ferner als zu versuchen, Sie zu trösten. Der Tröstende spricht ja stets: „Es ist ja nicht so schlimm“, versucht also, das Geschehene: Leiden oder Verschuldung, zu verkleinern oder mit Worten aus der Welt zu schaffen. Genau das ist es ja auch, was Ihre Ärzte versuchen. Warum sie das tun, ist ja nicht schwer zu erraten. Schließlich sind diese Männer Angestellte eines Militärhospitals, denen die moralische Verurteilung einer allgemein anerkannten, ja gepriesenen militärischen Aktion nicht gut bekommen würde; nein, denen die Möglichkeit einer solchen Verdammung gar nicht einfallen darf; die also die Untadligkeit der Tat, die Sie mit Recht als Schuld empfinden, unter allen Umständen verteidigen müssen.

Daher behaupten ja Ihre Ärzte: „Hiroshima in itself is not enough to explain your behaviour" — was in unverkünstelter Sprache nichts anderes bedeutet als: „So schlimm war Hiroshima ja gar nicht“; daher beschränken sie sich ja darauf, an Stelle e der Tat selbst (oder des Weltzustandes, in dem solche Tat möglich ist) Ihre Reaktion auf die Tat zu kritisieren; daher sind sie ja genötigt, Ihr Leiden und Ihre Erwartung von Strafe eine „Krankheit“ („classical guilt complex") zu nennen; und deshalb müssen sie ja Ihre Tat als ein „selfimagined wrong", als eine von Ihnen ausgedachte Untat behandeln. Ist es ein Wunder, daß Männer, die durch ihren Konformismus und durch ihre moralische Unselbständigkeit dazu gezwungen sind, die Untadligkeit Ihrer Tat zu retten, und die deshalb Ihre Gewissenshof als pathologisch bezeichnen müssen, daß mit so lügenhaften Voraussetzungen arbeitende Männer nicht gerade sensationelle Heilerfolge erzielen können?

Ich kann mir vorstellen — wenn ich mich irre, korrigieren Sie mich bitte —, wie ungläubig, wie mißtrauisch, wie abweisend Sie diesen Männern gegenüberstehen müssen, weil sie eben lediglich Ihre Reaktion ernst nehmen, Ihre Aktion dagegen nicht. Hiroshima — self imagined. Wahrhaftig! Sie wissen es besser. Nicht ohne Grund betäuben die Schreie der Verletzten Ihre Tage, und nicht ohne Grund drängen sich die Schatten der Toten in Ihre Träume. Sie wissen, daß was geschehen ist, geschehen ist und nicht imagined. Sie lassen sich von diesen Männern keine Schwachheiten einreden. Und auch wir lassen uns von ihnen nichts vormachen. Mit solchen „Tröstungen“ wollen also auch wir nichts zu tun haben.

Nein, ich sage: „für uns". Für uns ist die Tatsache, daß Sie mit dem Geschehenen „nicht fertig werden", tröstlich. Das ist sie für uns deshalb, weil sie beweist, daß Sie den Versuch machen, dem (damals nicht vorgestellten) Effekt Ihrer Tat nur nachträglich doch noch nachzukommen; weil dieser Versuch, auch wenn er scheitert, ein Zeugnis dafür ist, daß Sie Ihr Gewissen haben wachhalten können, obwohl Sie einmal als Maschinenstück in einen technischen Apparat eingeschaltet gewesen und in diesem erfolgreich verwendet worden waren. Und da Sie dazu imstande waren, haben Sie damit bewiesen, daß man dazu imstande ist, daß unsereiner dazu gleichfalls imstande sein muß. Und das zu wissen — und dieses Wissen verdanken wir eben Ihnen —, das ist für uns eben tröstlich.

„Auch wenn Ihr Versuch scheitert“, sagte ich. Er muß nämlich scheitern. Aus folgendem Grunde: Schon wenn man einem einzigen Menschen Unrecht angetan hat — ich rede noch gar nicht von Töten — ist es, obwohl die Tat übersehbar bleibt, keine leichte Aufgabe, damit „fertig zu werden". Aber hier handelt es sich ja um etwas anderes. Sie haben ja das Unglück, zweihunderttausend Tote hinter sich gelassen zu haben. Und wie sollte man einen Schmerz aufbringen können, der 200.000 Menschen umfaßt? Wie sollte man 200.000 bereuen können? Das können nicht nur Sie nicht, das können nicht nur wir nicht, das kann niemand. Wie verzweifelt wir es auch versuchen, Schmerz und Reue bleiben unzulänglich. Die Vergeblichkeit Ihrer Bemühung, die ist also nicht Ihre Schuld, Eatherly.

Sie ist die Folge dessen, was ich vorhin als das entscheidende Neue unserer Situation bezeichnet hatte: Daß wir nämlich mehr herstellen können, als wir vorstellen können; daß die Effekte, die wir mit Hilfe unserer von uns selbst hergestellten Geräte anrichten, so groß sind, daß wir für deren Auffassung nicht mehr eingerichtet sind. Größer also als das. was wir innerlich meistern, womit wir fertig werden können. Machen Sie sich also keine Vorwürfe dafür, daß Ihnen Ihre Reue nicht gelingt. Das fehlt noch gerade. Die Reue kann nicht gelingen. Aber das Scheitern Ihrer Mühe, das müssen Sie freilich täglich erfahren und durchmachen; denn außer dieser Erfahrung des Scheiterns gibt es nichts, was die Reue ersetzen könnte, was uns davon abhalten könnte, uns noch einmal auf so ungeheuerliche Taten einzulassen. Daß Sie, da Ihre Mühen nicht gelingen können, panisch und unkoordiniert reagieren, ist also durchaus begreiflich. Beinahe darf man sagen: Es ist ein Zeichen Ihrer moralischen Gesundheit. Denn Ihre Reaktion beweist die Lebendigkeit Ihres Gewissens.

Die übliche Methode, mit dem zu Großen fertig zu werden, besteht in einem bloßen Unterschlagungsmanöver: darin, daß man genau so weitergeht wie, vorher; daß man das. Geschehene von der Tischplatte des Lebens wischt, daß man die zu große Schuld als gar keine Schuld behandelt. Also darin, daß man, um damit fertig zu werden, keinen Versuch macht, damit fertig zu werden. Wie es zum Beispiel Ihr Kamerad und Landsmann Joe Stiborik tut, der ehemalige Radarmann auf der Enola Gay, den man Ihnen, weil er robust und guter Dinge weiterlebt und weil er in bester Stimmung erklärt hat, daß es „damals eben nur eine etwas größere Bombe gewesen“ sei, als gutes Beispiel vorzuhalten liebt. Noch besser war diese Methode sogar durch jenen Präsidenten illustriert, der Ihnen sein „Fertig-Ios"-Zeichen gegeben hat, so wie Sie Ihr „Fertig-los“-Zeichen dem Bombenpiloten gegeben haben; der sich eigentlich in der gleichen Situation wie Sie, wenn nicht sogar in einer noch böseren, befindet.

Aber was Sie getan haben, das hat er eben versäumt. Denn er hat ja vor einigen Jahren — ich weiß nicht, ob Ihnen das damals zu Ohren gekommen ist — alle Moral aufs naivste verkehrend, in einem für die Öffentlichkeit bestimmten Interview verkündet, er spüre nicht die geringsten Gewissensbisse, womit seine Unschuld ja wohl bewiesen sei; und als er jüngst an seinem 75. Geburtstage ein Fazit seines Lebens zog, da hat er ja als das einzige seiner Reue würdige Unrecht die Tatsache genannt, daß er erst als Dreißiger geheiratet habe. Es scheint mir unwahrscheinlich, daß Sie diese Art von Sauberkeit beneiden. Völlig gewiß aber bin ich, daß Sie keinem gewöhnlichen Verbrecher die Erklärung, daß er unter keinen Gewissensbissen leide, als Beweis seiner Unschuld abnehmen würden. Ist nicht ein Mann, det so vor sich selbst Reißaus nimmt, eine lächerliche Figur? Sie haben das jedenfalls nicht getan, Eatherly. Sie sind keine lächerliche Figur. Sie tun, auch wenn Sie dabei scheitern, das Menschenmögliche. Sie versuchen, als der weiterzuleben, der es getan hat. Und das ist es, was uns tröstet. Auch wenn Sie sich, eben weil Sie mit Ihrer Tat identisch geblieben sind, durch diese Ihre Tat verändert haben.

Sie verstehen, daß ich damit auf Ihre Einbrüche, Fälschungen und ich weiß nicht welche anderen kriminellen Taten, die Sie begangen haben, anspiele. Und darauf, daß Sie als demoralisiert gelten. Glauben Sie nicht, daß ich Anarchist sei und für Einbrüche oder Fälschung eintrete oder sie auf die leichte Schulter nehme. Aber in Ihrem Falle sind diese Vergehen etwas anderes als gewöhnlich. Eben Verzweiflungsschritte. Denn so schuldig zu sein wie Sie es sind, und trotzdem von der Öffentlichkeit als schuldlos klassifiziert, ja auf Grund der Schuld sogar als „smiling hero“ gepriesen zu werden, das muß für einen anständigen Menschen ein unerträglicher Zustand sein; ein Zustand, für dessen Beendigung man eben auch etwas Unanständiges unternimmt. Da das Ungeheuere, das auf Ihnen lag und liegt, in der Welt, der Sie angehören, nicht verstanden wurde, nicht verstanden werden durfte, nicht verständlich gemacht werden konnte, mußten Sie eben versuchen, in der dort verständlichen Sprache, in der kleinen Sprache von Normalvergehen, in den Ausdrücken der Gesellschaft selbst zu sprechen und zu handeln. Also haben Sie versucht, Ihre Schuld durch Akte zu beweisen, die als Vergehen dort immerhin unerkannt werden. Aber auch das ist Ihnen nicht gelungen. Weiter bleiben Sie dazu Verurteilt, als krank zu gelten, statt als schuldig. Und deshalb, weil man Ihnen gewissermaßen die Schuld nicht gönnt, bleiben Sie weiter ein unglücklicher Mensch.

Und nun zum Schluß eine Anregung.

Im vorigen Jahre habe ich Hiroshima besucht; und dort habe ich mit denjenigen gesprochen, die nach Ihrem Besuch von Hiroshima übriggeblieben sind. Sie können gewiß sein: Unter diesen Menschen gibt es keinen einzigen, der daran dächte, die Schraube innerhalb einer militärischen Maschine — und das waren Sie ja, als Sie als Sechsundzwanzigjähriger Ihre „Mission“ durchführten — zu verfolgen; keinen einzigen, der Sie haßt.

Aber nun haben Sie ja bewiesen, daß Sie, obwohl Sie einmal als solche Schraube verwendet worden waren, im Unterschiede zu den anderen, ein Mensch geblieben oder wieder ein Mensch geworden sind. Und nun kommt mein Vorschlag, den Sie sich vielleicht überlegen.

Am kommenden 6. August feiert die Bevölkerung von Hiroshima, wie jedes Jahr, den Tag, an dem „es“ geschehen ist. Diesen Menschen könnten Sie eine Botschaft schicken, die zur Feier zurechtkommen müßte. Wenn Sie diesen Menschen als Mensch mitteilen würden: „Ich wußte damals nicht, was ich tat; nun aber weiß ich es. Und ich weiß, daß derartiges nicht wieder geschehen darf; und daß kein Mensch keinem anderen zumuten darf, derartiges zu tun.“ Und: „Euer Kampf gegen die Wiederholung solcher Aktion ist auch mein Kampf; und Euer "No more Hiroshima" ist auch mein "No more Hiroshima", so - oder so ähnlich — Sie können überzeugt davon sein, daß Sie mit solcher Botschaft den Überlebenden von Hiroshima eine ungeheure Freude bereiten würden; und daß Sie von diesen Menschen als Freund betrachtet werden würden, als einer von ihnen; und das sogar mit Recht, weil auch Sie, Eatherly, ein Hiroshima-Opfer sind.

In dem Gefühl, das ich jedem dieser Opfer gegenüber empfinde, grüße ich Sie.
Günther Anders

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