Seuchen Süden Corona - © Foto: APA / AFP / Rijasolo

Epidemien im Welt-Süden: Die Pest blieb an Bord

19451960198020002020

Die Weltkarte der Seuchen zeigt ein eindeutiges Bild: Je südlicher, desto mehr und tödlicher. Je südlicher, desto weniger Mittel zu ihrer Bekämpfung. Je südlicher, desto vergessener.

19451960198020002020

Die Weltkarte der Seuchen zeigt ein eindeutiges Bild: Je südlicher, desto mehr und tödlicher. Je südlicher, desto weniger Mittel zu ihrer Bekämpfung. Je südlicher, desto vergessener.

Werbung
Werbung
Werbung

Wegen Corona wird vielleicht sogar die Pest verschoben. Im Oberammergau. Bei den Passionsspielen. Am 15. Mai sollte das Drama Premiere haben. Doch auch dieser Termin wackelt. Wegen des Virus sind die Proben für Volksszenen abgesagt, finden nur noch Einzelproben statt. Bald 400 Jahre nach dem rettenden Gelöbnis, bei Verschonung von weiteren Pesttoten alle zehn Jahre das „Spiel vom Leiden, Sterben und Auferstehen unseres Herrn Jesus Christus“ aufzuführen, holt der Seuchenernst das Passionsspiel ein.

Je südlicher, desto verbreiteter, desto tödlicher.

Noch viel weiter zurück als die Angst vor Hunger und Krieg liegt das Zittern vor tödlichen Epidemien – in „unseren Breiten“, wie die „OECD-Staaten und übrigen marktwirtschaftlich organisierten Industriestaaten“ geographisch eingeordnet werden. Und das zurecht, gilt auf der Weltkarte der Seuchen doch die Einteilung: Je südlicher, desto verbreiteter, desto tödlicher. „Wir lagen vor Madagaskar und hatten die Pest an Bord …“ Das gruselige Lied aus Jugendzeiten, gesungen am Lagerfeuer und in eine längst vergangene Seefahrerzeit-Schublade geräumt, ist auf Madagaskar Gegenwart.

Navigator

Unterstützen Sie uns!

Die Zeiten sind ernst. Auch für uns. Sichern Sie sich mit einem Abo weiterhin Qualitätsjournalismus - und der FURCHE die Zukunft: www.furche.at/abo

Die Zeiten sind ernst. Auch für uns. Sichern Sie sich mit einem Abo weiterhin Qualitätsjournalismus - und der FURCHE die Zukunft: www.furche.at/abo

Die Insel mit 25 Millionen Einwohner ist seit Jahren das Land mit den weltweit meisten Pest-Erkrankungen, vor allem der Beulenpest. Im Oktober 2017 versetzte jedoch ein Ausbruch der noch gefährlicheren Lungenpest die Menschen in Angst – vor allem weil die Pest dieses Mal nicht am Land, sondern in den dicht besiedelten Städten grassierte. Die Vorräte an Antibiotika zur Pest-Prophylaxe waren schnell verbraucht, berichtete die Deutsche Presse-Agentur (dpa). Madagaskars Präsident sagte: „Wir befinden uns in einem Krieg, aber heute haben wir, glaube ich, die Waffen und die Munition, diese Epidemie zu besiegen.“

Die Pest traf vor allem die von Müll übergehenden Armenviertel. Verursacher der Pest ist das Bakterium Yersinia pestis. Der Erreger wird meist von Flöhen übertragen, die sich Ratten als Wirt nehmen. Wird ein Fall gemeldet, rücken die Gesundheitsbehörden an, um gegen die Ratten vorzugehen, Häuser zu desinfizieren und mit Insektizid einzusprühen. Pest-Tote werden mit Chlorlösung gewaschen und mit Kalk eingerieben, denn selbst sie können die Infektion weitergeben. Bestattungsrituale wie die sonst übliche mehrtägige Totenwache im Haus des Verstorbenen sind bei Pest verboten. Die Leichen müssen weit weg von Friedhöfen begraben werden. 2017 schickte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) 1,5 Millionen Dosen Antibiotika und konnte die Verbreitung der Seuche stoppen – bis zum nächsten Ausbruch, bis zur nächsten Epidemie.

Mit dem Kind zum Tierarzt

Im April des Vorjahres waren es die Masern. Über hunderttausend Erkrankungen, mehr als tausend Tote. Das Masern-Virus hatte in Madagaskar leichtes Spiel. Jahrelang wurde nur rund die Hälfte aller Kinder geimpft. Grund dafür sind keine Impfgegner, sondern dem Staat fehlen die finanziellen Mittel für Aufklärungs- und Impfkampagnen. Dazu kommt, dass 50 Prozent der Kinder mangelernährt sind, bereits ein geschwächtes Immunsystem haben.

Das Masern-Virus hatte in Madagaskar leichtes Spiel. Jahrelang wurde nur rund die Hälfte aller Kinder geimpft.

Die dpa-Korrespondenten sprachen mit Marie-Jeanne Randriamahefy, deren sechs Kinder an Masern erkrankten: „Ich hatte das Gefühl, einer nach dem anderen würde mir wegsterben“, sagte sie. Tagsüber arbeitete sie als Putzfrau, abends und nachts war sie Pflegerin in ihrem Heim-Lazarett: „Drei Kinder lagen in einem Bett, die drei übrigen im anderen Bett.“ Für einen Arzt hatte Randriamahefy kein Geld, ihre vier Jahre alte Tochter brachte sie zum Tierarzt. Schließlich lieh sie sich Geld, um die Kleine in ein Krankenhaus zu bringen – sie und ihre Geschwister überlebten.

Am heftigsten treffen Seuchen-Ausbrüche weltweit immer die Ärmsten der Ärmsten. Jeanne Randriamahefy und ihre Seuchennot stehen beispielhaft für die regelmäßig an Masern, Pest, Ebola, Malaria, Cholera, Gelbfieber und anderen Epidemien erkrankenden, leidenden und sterbenden armen Bewohner der armen Länder des Südens. Wobei nicht die Seuchen alleine töten. Die Viren sind die Marketenderinnen im Tross von Bürgerkriegen und Staatszerfall.

Am heftigsten treffen Seuchen-Ausbrüche weltweit immer die Ärmsten der Ärmsten.

Es ist kein Zufall, dass von Krieg und Diktatur schwach geklopfte Staaten mit zerstörter Infrastruktur und am Boden liegenden Gesundheitssystemen wie Kongo, Liberia, Guinea, Sierra Leone oder weitere „failed states“ am schwersten unter Ebola und anderen Seuchen leiden. Die aktuellen Zahlen bestätigen diesen Befund. Laut Marcus Bachmann von „Ärzte ohne Grenzen“ zählt die WHO mit Stichtag 8. März in der Afrika-Region 64 Epidemien.

Zu heiß und trocken für Corona?

Corona gehört nicht dazu. Noch nicht. Die bis Ende der Vorwoche geringe Zahl an bestätigten Corona-Fällen in Subsahara-Afrika liege einerseits daran, dass wenige Tests durchgeführt werden, erklärte Bachmann der Austria Presse Agentur. Andererseits merke man daran, dass die Globalisierung in Afrika weniger fortgeschritten, Afrika vergleichsweise weniger vernetzt sei. Sollte sich das Coronavirus aber weiter in die Länder südlich der Sahara ausbreiten, würde das nach Einschätzung aller Experten die Gesundheitssysteme dieser Länder vor enorme Herausforderungen stellen.

Ein Vorteil afrikanischer Länder im Kampf gegen die tödlichen Folgen des Coronavirus könnte deren Altersstruktur sein. Die Corona-Risikogruppe sind vor allem ältere Menschen, das Durchschnittsalter der Bevölkerung in afrikanischen Ländern liegt jedoch unter 30 Jahren. Ob und welche Auswirkungen das Klima auf die Ausbreitung des Coronavirus hat, ist noch unklar. Dass besonders in Ländern mit tropischem sowie sehr trockenem Klima momentan wenig bis keine Coronavirus-Fälle zu verzeichnen sind, wird jedoch als auffällig bezeichnet. Ein seltener und sich hoffentlich bestätigender Vorteil des Südens.

Um einen eklatanten Nachteil dieser Region wettmachen zu können, bräuchte es aber einen anderen, einen wirtschaftlichen, einen solidarischen Klimawandel. Das zeigt die zweite auf Madagaskar grassierende uralte Seuche: Lepra. Neben den Folgen der Krankheit droht den davon Betroffenen nach wie vor die soziale Isolation: Sie werden gemieden und häufig von den Familien verstoßen. Die WHO kritisiert, dass Lepra eine der vernachlässigten Tropenkrankheiten ist: „Es gibt praktisch keine öffentlichen Mittel für die Lepra-Bekämpfung“, sagte der Lepra-Arzt Bertrand Cauchoix gegenüber der dpa.

Kein Pharmaunternehmen will in einen Impfstoff investieren, der im Westen nicht verkauft werden kann.

Bertrand Cauchoix

Auch eine Impfung sei nicht absehbar. Der Grund dahinter ist rein wirtschaftlich: „Kein Pharmaunternehmen will in einen Impfstoff investieren, der im Westen nicht verkauft werden kann.“ In Albert Camus’ Roman „Die Pest“ begreift die Hauptfigur, der Arzt Bernard Rieux, als erster die Gefahr und erklärt dem Professor, der schließlich ein Serum gegen die Seuche entwickeln wird: „‚Ja, Castel‘, sagte er, ‚es ist kaum zu glauben. Aber es scheint wirklich, dass es die Pest ist.‘ Castel erhob sich und ging auf die Tür zu. ‚Sie wissen, was man uns zur Antwort geben wird‘, sagte der alte Arzt. Sie ist seit Jahren aus den gemäßigten Zonen verschwunden.‘“ Der Roman ist 1947 erschienen. In den in mehrfacher Hinsicht nicht gemäßigten Zonen ist die Pest bis heute nicht verschwunden – und wird auch wegen Corona nicht verschoben werden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung