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Brief #19: Das Erinnern an Sehnsucht gehört zu meiner Welt

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Die Menschen müssen selbst schauen, dass die Kanäle in ihnen für den Geist wieder schiffbar werden. Aber die Köpfe, auf die es ankommt, sind wie vernagelt.

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Die Menschen müssen selbst schauen, dass die Kanäle in ihnen für den Geist wieder schiffbar werden. Aber die Köpfe, auf die es ankommt, sind wie vernagelt.

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Soeben, mitten in meinem Nachsinnen über den Weltschmerz, ein Thema Ihres jüngsten Briefes, hat mich meine älteste Enkelin – per Whatsapp und von ziemlich weit weg – angerufen und mir erzählt, mit welch großem Interesse sie gerade unsere Dialogkolumne im Podcast gehört hat! Sie meinte, es sei richtig spannend gewesen. Sehr gerne gebe ich das Kompliment an Sie weiter! Einst war diese Enkelin ja „mein kleines Kamel“ – und ich war ihr „großes Kamel“; später habe ich für sie – und vielleicht für ihre zukünftigen Kinder – sogar ein Bilderbuch über diese besondere Kamelbeziehung geschrieben. Jetzt ist die Enkelin eine kritische junge Frau und lebt in einem anderen Land.

Apropos Weltschmerz. Nach meinem Wörterbuch der Philosophie ist Weltschmerz das Leiden des Menschen an der Unzulänglichkeit der Welt. Das hieße allerdings, die Schuld an allem Übel der Welt einem schlampigen Baumeister zu geben, der dieses und jenes vergessen oder falsch montiert habe. Nein. Ich bin vielmehr der Meinung – und daran leide ich wirklich –, dass wir Menschen durch Gleichgültigkeit und hemmungslosen Egoismus der Welt viel Schmerz zufügen. Weltschmerz, abseits von romantischer Melancholie.

Sie fragen, ob mir Literatur hilft. Ob man mit Journalismus „die Gesellschaft verändern“ könne. Ehrlich: Auch ich weiß es nicht. In der Geschichte spricht nichts dafür. Literatur und Journalismus können vielleicht Bewusstsein dafür schaffen. Die Menschen müssen selbst schauen, dass die Kanäle in ihnen für den Geist wieder schiffbar werden, für Ideen zur Lebensbesserung. Sie sehen, ich flüchte mich in Metaphern. Aber manchmal denke ich, dass die Köpfe, auf die es heute ankommt, wirklich wie vernagelt sind.

Hoffnung als „Sehnsucht nach dem ganz Anderen“

Sie schreiben: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Diesen Satz höre ich oft. Und immer regt sich in mir der Widerspruch: Nein. Denn Hoffnung ist nur ein Wort für „eine Sehnsucht nach dem ganz Anderen“, wie der Philosoph Max Horkheimer in der letzten FURCHE zitiert wird, in Erinnerung an seinen 50. Todestag. „Diese Sehnsucht gehört zum wirklich denkenden Menschen.“ Ja, und das Erinnern an diese Sehnsucht gehört zu meiner Welt.

Der Autor ist Publizist und war bis 1999 Leiter der Religionsabteilung im ORF-Radio. In der Rubrik "Erklär mir deine Welt" schreiben er und Johanna Hirzberger einander abwechselnd Briefe.

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