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Brief #26: Ich fühle mich provoziert. Warum?

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Wie viel Leidensdruck muss da sein, um sich auf eine Straße zu kleben, um sich Gewalt auszusetzen? Je größer der Druck, desto weniger hat man zu verlieren.

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Wie viel Leidensdruck muss da sein, um sich auf eine Straße zu kleben, um sich Gewalt auszusetzen? Je größer der Druck, desto weniger hat man zu verlieren.

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Lieber Herr Gaisbauer!

Ich hatte mich schon gefragt, wann unsere Welten wieder aufeinanderprallen. Dass mein Körper damit zu tun haben wird, damit habe ich nicht gerechnet. Als Kind der 90er erinnere ich mich noch an zahlreiche Talk-Shows, die das Thema Tätowierungen ausgeschlachtet haben. Einmal war ein Mann zu Gast, dessen Gesicht komplett bemalt war, auf der Stirn hatte er hörnerartige Implantate und seine Zunge war gespalten. Das hat mir Angst gemacht. Was mich jedoch an Ihrer Ausführung überrascht, ist die religiöse Färbung Ihrer Vorurteile. Das macht etwas mit mir.

Heilige Haut

Im Moment kann ich die Emotionen, die es in mir hervorruft, noch nicht benennen. Vielleicht fühle ich mich provoziert. Warum? Weil ich an die zahlreichen Verbote und Maßregelungen im religiösen Gewand denke, deren Zweck es oft war und ist, Menschen zu unterdrücken? Oder vielleicht, weil ich aus irgendeinem Grund an die Netflix-Serie „Vatican Girl“ denken muss, die mich wütend macht. Falls Sie diese noch nicht kennen, würde mich Ihre Meinung dazu interessieren. Noch eine Frage, und dann lasse ich es gut sein: Welches Organ fänden Sie denn ersetzbar? Solang ich kann, möchte ich mich von keinem trennen müssen.

Nun gut, ich gehe davon aus, dass Sie die Sonne meiden und auch im Winter Cremen mit UV-Schutz tragen, wenn Ihnen Ihre Haut heilig ist. Das bringt mich gedanklich zu den steigenden Temperaturen und intensiveren Sonneneinstrahlungen, die uns im Zuge der Klimakrise auch in Zukunft begleiten werden. Da stelle ich mir die Frage, ob die klebenden Aktivistinnen und Aktivisten ihre Haut opfern, um unsere zu retten. Hach, vielleicht merken Sie es, die Hitze steigt mir zu Kopf.

Ich finde Ihre Erzählung von Jan Palach spannend, ich muss zu meiner Schande gestehen, ich hatte noch nie von ihm gehört. „Auch die Handflächen von ‚Klimaklebern‘ sind kostbar“, schreiben Sie und ich denke: „Ja, genau deshalb sollten wir auch hinhören.“ Wieviel Leidensdruck muss da sein, um sich auf eine Straße zu kleben, um sich potenzieller Gewalt auszusetzen? Je größer der Leidensdruck, desto weniger hat man zu verlieren, das denke ich. „Menschen haben eine Eigenverantwortung“ – dieser Satz stammt von einer Interviewpartnerin. Sie ist Juristin und ich habe mit ihr über den Zusammenhang zwischen Social Media und den Boom von Schönheitseingriffen gesprochen. Übrigens dürfte man sich diesen auch nicht unterziehen, als Ebenbild Gottes, oder?

Ist Jesus zu links?

Wenn ich schon bei Social Media bin: Ein Freund hat mir auf Instagram einen Info-Post weitergeleitet. Er beschäftigt sich mit der Frage, ob Jesus zu „links“ ist. Genauer gesagt damit, dass evangelikale Christen und Christinnen in den USA in Gottesdiensten vermehrt Jesus kritisieren. Er sei eben zu links und seine Ansichten zu schwach. Einige hätten sogar bestimmte Bibel-Passagen streichen lassen wollen, wie die Bergpredigt im Matthäus-Evangelium. Was halten Sie denn davon? Um ehrlich zu sein, auf den ersten Blick dachte ich, es handle sich bei dem Post um einen Scherz.

Ihre Johanna Hirzberger

Die Autorin ist Redakteurin von „Radio Radieschen“ und freie Mitarbeiterin von Ö1. In der Rubrik "Erklär mir deine Welt" schreiben sie und Hubert Gaisbauer einander abwechselnd Briefe.

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