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Brief #29: Ich habe Angst vor trostloser Verödung

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In der dialogischen FURCHE-Kolumne "Erklär mir deine Welt" kommen die Radiomenschen Hubert Gaisbauer und Johanna Hirzberger miteinander ins Gespräch. Diesmal geht es um den Schulanfang 1945, sentimentale Russen und Zuflucht bei Gedichten und Gebeten.

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In der dialogischen FURCHE-Kolumne "Erklär mir deine Welt" kommen die Radiomenschen Hubert Gaisbauer und Johanna Hirzberger miteinander ins Gespräch. Diesmal geht es um den Schulanfang 1945, sentimentale Russen und Zuflucht bei Gedichten und Gebeten.

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Liebe Frau Hirzberger!

Ihre Freude am Herbst als Neubeginn gefällt mir. Und Ihre Briefe lenken mein Nachdenken oft in eine ungewohnte Richtung. Das ist gut so. Ob ich einmal „neu begonnen“ habe, fragen Sie mich diesmal. Nein, nicht im Beruflichen, da hatte ich das Glück, die einmal eingeschlagene Laufbahn nie wechseln zu müssen.

Und sonst? Ja, da gab es die frühe Entscheidung, eine Familie zu gründen. Das war Neubeginn, für den meine Frau und ich – in unseren sehr jungen Jahren – überhaupt nicht vorbereitet waren. Ein sicht-, spür- und hörbarer Neubeginn war das, als unser erstes Kind geboren worden ist. An einem schönen Septembertag war es, da haben wir begonnen, erstmals für ein kostbares und einmaliges neues Leben Verantwortung zu übernehmen. Ansonsten werde ich auf die übliche Rede verzichten, wir Menschen hätten ja jeden Tag die Chance, neu zu beginnen. Mir genügt jetzt, wenn mir an einem wolkenfreien Morgen durch das Fenster meiner Dachstube der Sonnenaufgang recht aufmunternd ins Gemüt leuchtet.

Die Amerikaner sind nicht lange geblieben

Wie mein erster Schultag war, wollen Sie wissen. Er war im November des Jahres 1945. Das Schulgebäude war von russischen Besatzungssoldaten zweckentfremdet „benützt“ – und unser Klassenzimmer war in der Wirtsstube mit dem stark riechenden, dunkel geölten Bretterfuß­boden. Vier Klassen in einem Raum. Eins möchte ich Ihnen noch erzählen aus dieser Zeit. Wie überall gab es schlimme Vorkommnisse, auch in unserem Ort. Aber wir Kinder waren mit den Russen gut Freund – oder, anders gesagt, sie mit uns, übrigens sehr zum Missfallen der Eltern. Die haben es gar nicht gern gesehen, wenn ich zu Mittag lieber bei der russischen Feldküche gestanden bin und „mit den Russen“ pickiges Brot (chleb) und eine undefinierbare Gemüse­suppe aus einem Blechnapf gegessen habe. Zuvor waren ja die Amerikaner da, aber die sind nicht lange geblieben, nachdem sie den Leuten am Straßenrand von ihren Jeeps aus Schokolade und Kaugummi zugeworfen hatten. Dann die Russen. Die sind geblieben – und am Abend haben sie wehmütige Lieder aus ihrer Heimat gesungen. Na gut, ­Erinnern ist schön, aber nicht alles.

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