Erklär mir deine Welt
DISKURSBrief #18: Fühlen Sie auch den Weltschmerz intensiver?
Ich denke an Antonia Rados, der ich am Abend zuvor begegnet bin, an eine Freundin, die eines Morgens in Kiew aufwachte und plötzlich Kriegsjournalistin war.
Ich denke an Antonia Rados, der ich am Abend zuvor begegnet bin, an eine Freundin, die eines Morgens in Kiew aufwachte und plötzlich Kriegsjournalistin war.
Lieber Herr Gaisbauer!
Eigentlich habe ich mich gerade gut, ja lebendig gefühlt. Hinter mir liegen zwei Tage, prall gefüllt mit spannenden Gesprächen über neue Möglichkeiten im Journalismus und beeindruckenden Geschichten von Kolleg(inn)en, umgeben von Bäumen und duftenden Blumen. Selten habe ich in so kurzer Zeit mit so vielen Personen „connectet“. Nun sitze ich am Flughafen in Basel. In meinem Nacken sitzt ein Pärchen, das per Lautsprecher eine Familien Video-Konferenz auf Portugiesisch (?) führt, während ich Ihren Brief lese.
Bei den hundert Ertrunkenen verlässt mich die wiedergewonnene Heiterkeit. Meine Glieder werden schwer. Um mich schmiegt sich diese Gefühlsdecke, sie muss aus Blei sein. Natürlich habe ich diese und andere schreckliche Nachrichten in den vergangenen Tagen verfolgt.
Immer wieder sehe ich dieses Bild von zwei Brüdern vor meinem inneren Auge. Auf Instagram ist es mir begegnet. Ein blauer Zaun trennte die Geschwister. Der ältere von beiden war schon länger in Europa. Er fand seinen 18-jährigen Bruder nach dem Schiffsunglück, in dem mehr als 500 Geflüchtete ertrunken sein dürften, wieder und küsst den Kopf seines Bruders. Ich weiß nicht genau, wie Sie das mit den Dimensionen verrutschen meinen. Ein bisschen erinnert es mich an die Argumentationslinie: „Was sind das schon für Probleme, in Afrika verhungern Kinder!?“ Aber ich lasse mich gerne auf den Schauplatzwechsel ein und frage mich, fühlen Sie auch mit den Jahren den Weltschmerz intensiver? Wie immer bin ich ehrlich mit Ihnen, mich lassen diese Bilder nicht los, und sie hinterlassen in mir ein Gefühl der Hilflosigkeit, der Sinnlosigkeit. Gleichzeitig schreit mein innerer Anspruch mich an: „Jetzt stell dich nicht so an, Johanna!“
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