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Brief #17: Damit uns die Dimensionen nicht verrutschen

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Wie gemein, hasserfüllt, potenzstrotzend, prahlsüchtig und frauenverachtend konnten diese Männer um Troja doch sein! Und wir nannten sie einst Helden!

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Wie gemein, hasserfüllt, potenzstrotzend, prahlsüchtig und frauenverachtend konnten diese Männer um Troja doch sein! Und wir nannten sie einst Helden!

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Liebe Frau Hirzberger!

In meiner Welt zeigt sich immer wieder: Auch den alten weißen Männern – und ich weiß, wovon ich rede – wohnen zwei Seelen, ach, in ihrer Brust. Und es gelingt nicht immer, sie fein säuberlich voneinander zu trennen. Oft zerrinnen sie mir wie Dotter und Eiklar, wenn ich mich zu unbedacht öffne, im würzigen Vorgeschmack auf eine provokante Formulierung. Dennoch: Der ehrliche Bekenntnischarakter unserer Briefe gefällt mir. Auch wenn er sich manchmal zuspitzt. Trennen, was unterschiedlich ist, heißt ja nicht spalten. Und die Axt bleibt im Haus, weil kein Eis vorhanden ist, das es zu spalten gälte.

Heute früh habe ich in einer Zeitung (!) ein Gedicht gelesen, dessen eine Zeile in mir verfangen hat: „früher einmal / waren die Träume der Menschen aus Holz“. Das ist die Stimme der einen Seele in mir, der ich dankbar bin, weil sie mich die zweite – die der heutigen Welt – besser verstehen lehrt. Mein Vater war Wagner. Einer der letzten der Zunft. Er hat mit Holz gearbeitet. Und mit Holzscharten habe ich gespielt, wenn ich in einer Ecke sitzen durfte und er bei seiner Arbeit sein Lieblingslied summte oder pfiff: „Diandl geh her zan Zaun, loß da in‘d Äugerl schaun …“ Er kannte auch die Antwort: „I geh net her zan Zaun … geht di nix aun“. Und hat sie respektiert. Mit zwei Seelen in unserer Brust ist jeder Weg ein Osterspaziergang. Lebenslang! Sagt der alte weiße Mann in mir und hält sich einen Moment lang für weise.

Korrespondenz, die Sand aus den Augen schwemmt

Vor einer Woche war ich am Meer. Glücklich. Dann die Meldung von den hunderten Ertrunkenen. Ertrunken im selben Meer, in dessen sanften Wellen ich gerade schaukle. Als Lektüre hatte ich mir nur zwei altgriechische Tragödien mitgenommen, zur relecture nach zig Jahren.

Es ist auch unsere Korrespondenz, liebe Frau Hirzberger, die mir beim Wiederlesen den Sand aus den Augen schwemmt: Wie gemein, hasserfüllt, potenzstrotzend, prahlsüchtig und frauenverachtend konnten diese Männer um Troja doch sein! Und wir nannten sie einst Helden! Ich sage jetzt nicht, was alles mir dazu einfällt. Lese auch den „Gefesselten Prometheus“. Über die grausame Strafe an den Titanen, den Zeus, der Göttervater (!), an den kaukasischen Felsen schmieden und nageln ließ, weil jener in seiner „menschenfreundlichen Art“ (philánthropos trópos) den Göttern das Feuer gestohlen und es den ideelos dahinvegetierenden Menschen geschenkt hatte. Und damit ungeahnte technische und schöpferische Fähigkeiten. So war er für Zeus ein populistischer Konkurrent geworden. Oi, oi, Prometheus, rufe ich hinauf zu ihm, warum hast du vergessen, den Menschen auch jenes Licht anzuzünden, das ihnen nach ach! so vielen Fortschritten endlich den einen eingibt – jene Fähigkeit, die allen Technokraten und ihren Maschinen abgeht: Leben zu schützen und zu retten. Oi, oi, oi, Prometheus!

Dies nur, liebe Frau Hirzberger, damit uns die Dimensionen nicht verrutschen! Irgendwie sind wir eh immer mitten in unserem Thema, denn alles ist mit allem verbunden! Man sollte wieder Griechisch lernen in der Schule. Es hilft zu Erkenntnissen – und ist ja noch nicht verboten. Herzlich,

Ihr Hubert Gaisbauer

Der Autor ist Publizist und war bis 1999 Leiter der Religionsabteilung im ORF-Radio. In der Rubrik "Erklär mir deine Welt" schreiben er und Johanna Hirzberger einander abwechselnd Briefe.

Brief #16

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